Nida Forum 2025

Es entsteht eine neue Weltordnung. 

Wie mich dieser Satz langweilt! Er ist mittlerweile täglich zu hören und zu lesen. Was ist mit mir los? Habe ich kein Verständnis und keine Empathie für die Millionen und Abermillionen von Menschen, denen dieser Sachverhalt enorme Ängste einjagt? Vor allem Verlust- und Abstiegsängste, Unsicherheit, sowie Nostalgie in seiner aggressiven Form, nämlich als Sehnsucht nach kompromissloser, und, wenn es sein muss, brutaler Restauration alter Ordnungsvorstellungen. Diese Ängste und verqueren Sehnsüchte führen tatsächlich zu Verschiebungen oder gar Umwälzungen in der Innenpolitik und der Außenpolitik zahlloser Länder, zu neuen Bündnissen und neuen Konfliktlinien. 

Und das langweilt mich? Das nehme ich nicht ernst?

Doch, das nehme ich ernst. Was mich allerdings langweilt, ist die Art und Weise, wie diese Entwicklung kommentiert und diskutiert wird: Einerseits geschichtsvergessen, so als gäbe es keine historischen Erfahrungen und Lehren aus der Geschichte, an wir jetzt denken könnten, und andererseits völlig phantasielos in Hinblick auf eine wünschenswerte Zukunft, auf Möglichkeiten, die sich gegenwärtig auftun, geradezu aufdrängen, kurz: in Hinblick auf die Geschichte, die wir jetzt machen müssen. 

Was ist, wenn wir sie jetzt schon historisch betrachten, das Neue an der neuen Weltordnung? Sehen wir eine fundamentale Änderung des Systems, wie die Welt aufgeteilt und wie Mächte ihre Ansprüche auf Teile der Welt durchzusetzen versuchen? Nein. Im Grunde ist die heute so viel beschworene neue Weltordnung nur eine Fortsetzung der Gegenwart mit einer gewissen Umgewichtung der Möglichkeiten der sogenannten global player. Wenn wir uns bei einem Schachspiel darauf einigen und es akzeptieren, dass der Turm weniger wichtig ist, und ab jetzt bei jedem Zug nur noch ein Feld ziehen darf, dann ist es für alle, die gebannt zuschauen, trotzdem ein Schachspiel, und der Turm würde selbstbewusst erklären, er darf jetzt genau dasselbe wie der König.     

Egal wie unterschiedlich wir historische Prozesse und Ereignisse einschätzen und beurteilen, einem Sachverhalt muss jeder zustimmen: Alles was in der Geschichte einen Anfang hatte, hatte schließlich auch ein Ende. So können wir die gesamte Menschheitsgeschichte zusammenfassen, und so sollten wir auch auf die gegenwärtigen Entwicklungen blicken. Müssen wir wirklich daran erinnern, dass die antike Sklavenhaltergesellschaft heute nicht mehr existiert, das Imperium Romanum, der Feudalismus und Absolutismus, das Gottesgnadentum und so weiter? 

Oder: können Sie sich vorstellen, dass die Stadt Ulaanbaatar einst der Mittelpunkt der Erde war, damals als die Weltherrschaft der Mongolen nahezu den ganzen eurasischen Kontinent umspannte – von China über Persien und den Irak bis nach Russland? Die Menschen damals konnten sich auch nicht vorstellen, dass Ulaanbaatar einmal eine trostlose Stadt in einem abgelegenen Winkel der Welt sein wird.   

Sie können sicher sein, dass die Menschen, die in der jeweiligen Epoche lebten, sich nicht vorstellen konnten, dass das Gewohnte je zu Ende gehen wird. Und es ist doch geschehen. 

Stellen Sie sich vor, ein Sklave und seine Frau wären zu Kleisthenes gegangen, dem Begründer der attischen Demokratie, die bekanntlich als Wiege unserer Demokratie bezeichnet wird, und hätten sich die Frage erlaubt: Verehrter Kleisthenes, können Sie sich auch eine Demokratie ohne Sklaven vorstellen, aber mit Frauen? Kleisthenes hätte im besten Fall schallend gelacht. Vorstellen hatte er sich das nicht können.

Stellen Sie sich einen leibeigenen Bauern vor, der in der Hochblüte des mittelalterlichen Feudalismus zum Grundherrn geht und submissest vorträgt, dass er nach der Lehre Christi das Konzept der Leibeigenschaft völlig falsch und alles andere als gottgewollt findet. Glauben Sie, dass der Grundherr sich gedacht hätte, dass der Mann vielleicht recht hat und dieses System daher untergehen wird? Dass er gesagt hätte, guter Mann, darauf müssen wir einen Becher Wein miteinander trinken? Sicher nicht. Das System war für die Ewigkeit angelegt und die Nutznießer müssen völlig verwirrt, erstaunt und verängstigt und dann höchst aggressiv gewesen sein, als es tatsächlich zu Ende ging.

Kommen wir in die Gegenwart. Zunächst in die Gewordenheit unserer Gegenwart. Seit unseren Urgroßeltern (und das ist eine Zeitspanne, über die wohl die meisten von uns Familienerzählungen kennen) hat jede Generation das Ende einer Weltordnung und das Entstehen einer neuen Weltordnung erlebt, wirklich jede Generation. Der Erste Weltkrieg zerstörte vier Weltreiche, danach war die Welt eine andere. Dann zeigte sich die Hilflosigkeit kleiner Nationalstaaten, die so heiß erkämpft und euphorisch gegründet wurden, sie wurden zu Spielbällen im Ringen um eine neue Weltordnung, die der Völkerbund versprach, der bald scheiterte und einer neuen Weltordnung Platz machen musste. Im Zweiten Weltkrieg entwickelten sich die USA und die Sowjetunion zu Großmächten, die die Welt unter sich aufteilten, eine neue Weltordnung, die nach 1989 zu Ende ging (was sich übrigens noch wenige Wochen vor dem Mauerfall niemand hatte vorstellen können), worauf China zur Großmacht aufstieg, schon wieder eine neue Weltordnung! 

Wenn also eine Nachricht keinen Neuigkeitswert hat, dann diese: Es entsteht eine neue Weltordnung. In jeder Generation! Aber, und das ist wichtig zu verstehen, es waren immer Weltordnungen, die hervorgestülpt wurden aus dem Konkurrenzkampf von Nationen. 

Eine Neuigkeit wäre, wenn wir offensiv darüber diskutierten, welche Ordnung der Welt und welche politische Organisation unseres gesellschaftlichen Lebens wir im Sinn des Fortschritts der Freiheit wünschenswert fänden, die also wirklich neu wäre, und wie wir sie mit welchen Mitteln herstellen können. Die Frage ist also: Wollen wir eine neue Weltordnung erleiden oder wollen wir sie gestalten? Wollen wir den Medien entnehmen, was in unkontrollierter Eigendynamik, angetrieben von Mächten und Menschen, auf die wir keinen Einfluss haben, geschieht und wovor wir uns fürchten müssen, oder wollen wir zu Subjekten der Geschichte werden?

Klären wir einmal die Voraussetzungen. Die Entstehung der neuen Weltordnung, die uns heute so nervös macht, ist in Wahrheit ein Zombie-Tanz der Geschichte. Nämlich ein Ringen großer Nationen um globale Vorherrschaft. Warum Zombie-Tanz? Weil die Globalisierung längst die Nationsidee überwunden hat. Das ist als Prämisse weiterer Diskussionen wichtig. Was ist Globalisierung? Eine dynamische, auf ewiges Wachstum und Ausdehnung fixierte wirtschaftliche Entwicklung, die zu multinationalen Konzernen führte, hat nationale Grenzen zertrümmert, die nationale Souveränität von Staaten ignoriert oder ihren Interessen unterworfen, sich Gesetze jenseits nationaler Rechtsstaatlichkeit gegeben und nationale Politik zu ihren Gunsten erpressbar gemacht, kurz: das Fundament der Nationsidee und der Legitimation der Nation zerstört. Die internationale Arbeitsteilung in der Produktion, die Lieferketten, die Finanzströme sind längst transnational, Nation ist 19. Jahrhundert, ist bestenfalls vintage. Die einzigen, die das noch nicht begriffen haben, sind die großen Nationen, die glauben, dass Globalisierung auch nur eine Dynamik sei, über die man nationale Kontrolle erlangen müsse, um globale Vormachtstellung zu erlangen, und sei es zu Lasten sogar der eigenen Populationen. Politisch tickt in ihnen dabei die blecherne Mechanik des 19. Jahrhunderts: da geht es um Erweiterung des Territoriums, um exklusiven Zugang zu Bodenschätzen, um politische Einflusssphären, da geht es um eine so genannte Bündnispolitik, die Unterwerfung fordert, zum Beispiel durch Einsetzen von Marionetten-Regierungen oder Unterstützung von Schurkenstaaten, und das alles in letzter Konsequenz mit militärischen Mitteln. Und da reden wir noch gar nicht von den völlig aus der Zeit gefallenen Vorstellungen von einer ethnisch und sprachlich reinen, von Menschen anderer Herkunft, anderer Muttersprache und anderer Religion befreiten Nation, angesichts der globalen Migrations- und Fluchtbewegungen. 

Es ist verständlich, dass in einer Zeit großer Transformationskrisen für sehr viele Menschen die Welt, die sich objektiv immer enger vernetzt, subjektiv auseinanderfällt, in eine Welt „da draußen“, von der die Bedrohungen kommen, und in die Welt ihres unmittelbaren Lebensortes, ihres Landes, von dem sie Schutz und Verteidigung ihrer Lebensart und ihrer Lebenschancen erwarten. Das ist die Stunde der Rechtspopulisten. Sie versprechen die Ordnung und Sicherheit der eigenen Nation wiederherzustellen und zu verteidigen, gegen die Anfechtungen einer chaotischen und gefährlichen Welt. Allerdings können die Nationalisten ihre Versprechen unmöglich einlösen. Denn keine der großen Herausforderungen, die bewältigt werden müssen, von den Migrationsströmen bis zum Klimaschutz, von den Transformationskrisen der Wirtschaft bis zu den internationalen Finanzkrisen, Internet, Cyberkriege, Künstliche Intelligenz, absolut nichts von Belang für das Leben in Wohlstand, Freiheit, gefestigter Demokratie und Sicherheit, kann innerhalb der Grenzen einer Nation gemeistert werden, am allerwenigsten in kleinen Nationen. Die Nationalisten müssen also scheitern. Wie werden die Wähler reagieren? Sie werden sagen, dieser nationale Politiker, dem wir das Vertrauen geschenkt haben, war nicht konsequent genug, wir brauchen eine konsequentere nationalistische Regierung. Diese wird eine Zeit lang mit Symbolpolitik und Kulturkampf so etwas wie Ersatzbefriedigungen zu liefern versuchen, aber auch sie wird scheitern, weil alle Herausforderungen eben längst transnational sind, also wird der Ruf nach einem härteren, kompromisslosen Führer laut werden, der sich nicht durch die Beschränkungen und Einhegungen von Macht, wie sie Demokratien vorsehen, behindern lässt. Das ist der Weg in den Faschismus. 

Wenngleich man diese Dynamik verstehen kann, so wäre es doch völlig unverständlich und unakzeptabel, dies hinzunehmen.

Machen wir noch einen kurzen Blick zurück. Europa nach 1945. Staaten, die kurz davor noch verfeindet waren, und verwüstet von nationalistischen Kriegen und Verbrechen, haben eine politische Konsequenz aus dieser Untergangserfahrung gezogen. Mit der Gründung der Montanunion, die zur heutigen EU weiterentwickelt wurde, sind sie bewusst in einen nachnationalen Prozess eingetreten, zur Überwindung des Aggressors, der die größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte zu verantworten hatte – der Aggressor hieß Nationalismus. Die Idee war, die nationalen Ökonomien so miteinander zu verflechten, dass kein teilnehmender Staat mehr etwas gegen einen anderen unternehmen kann, ohne sich selbst zu schaden, wodurch Gemeinwohl entnationalisiert und verallgemeinert werden sollte, unter der Kontrolle supranationaler Institutionen, die dann auch die Aufgabe bekamen, diesen Prozess weiterzuentwickeln. Internationale Organisationen gab es schon davor, sie sind gescheitert wie der Völkerbund, oder scheitern unentwegt wie die UNO. Europa ist der erste Kontinent, der supranationale Institutionen geschaffen hat, und das ist etwas ganz anderes und Weiterreichendes. Ich behaupte, hier sehen wir den wirklichen Epochenbruch, auch wenn er schleichend von Statten geht. Dieser Prozess hat überraschend weit getragen, wenn man bedenkt, wie unvorstellbar für die Mehrheit der Menschen in Europa es zunächst gewesen sein musste, was dann nach und nach durchgesetzt werden konnte. Wer hat sich vorstellen können, dass Frankreich, kurz nachdem es endlich die deutschen Besatzer niedergerungen und rausgeworfen hat, Souveränitätsrechte an eine gemeinsame Behörde mit den Deutschen abgeben würden? Wer hat sich vorstellen können, dass die Deutschen auf ihre extrem fetischisierte D-Mark zugunsten einer europäischen Gemeinschaftswährung verzichten würden? Wer hat sich in den 50er Jahren vorstellen können, dass einmal die europäischen Staatsgrenzen innerhalb der Union zugunsten für Reise- und Niederlassungsfreiheit fallen würden? Und doch ist das und noch viel mehr passiert. Die europäische Menschenrechtscharta ist in der EU in Verfassungsrang, im Gegensatz zur UNO-Menschrechtsdeklaration, die bloß eine Empfehlung ist, die viele Staaten, von den USA bis zu Vatikan-Staat, nicht einmal ratifiziert haben. Das ist der Unterschied zwischen internationalen Abmachungen und supranationaler Gestaltung. Das ist ein Fortschritt in der Menschheitsgeschichte, der meiner Meinung nach bedeutender ist, als der erste Schritt eines Menschen auf dem Mond. 

Die Idee, die europäischen Nationen in einer politischen Gemeinschaft aufzuheben, die auf der Basis der Menschenrechte Gemeinschaftsrecht produziert, das für alle gilt, wo auch immer sie in Europa leben und arbeiten, oder leben und arbeiten wollen, und das ihnen Rechtssicherheit gibt und alle Freiheitsrechte garantiert, diese Idee wird, nach der vorangegangenen Geschichte, wohl dereinst von Historikern als die bedeutendste Revolution auf diesem Kontinent bezeichnet werden. 

Die Idee. Und die ersten Schritte. Und dann? Kommen wir zurück zur gegenwärtigen Situation, und erinnern wir uns an diese geschichtsphilosophische Selbstverständlichkeit: Alles, was in der Geschichte einen Anfang hat, hat dann auch ein Ende. Wir befinden uns heute in einer weltgeschichtlichen Minute, in der die Idee und der Anspruch nationalstaatlicher Interessenspolitik objektiv hinfällig geworden ist und nur noch von drei oder vier der größten Nationen mit der größten militärischen Macht verteidigt wird. Wir können sehen, dass alle Versprechen einer Nation in Hinblick auf Wohlstand, Freiheit, Rechtszustand zu Fiktionen geworden sind, was einen gesellschaftlichen Frust produziert, für den alle, die nicht zur selbstdefinierten Gemeinschaft gehören, büßen müssen.

Das europäische Gemeinschaftsprojekt hat 1951 nicht als Reaktion auf die Herausforderungen der Globalisierung begonnen (der Begriff Globalisierung wurde erst 1983 vom amerikanischen Ökonom Theodore Levitt popularisiert!), sondern als Reaktion auf die Erfahrungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Das finde ich wirklich interessant: die Idee, die damals als Reaktion auf historische Erfahrungen entstand, also eine Konsequenz der Vorgeschichte war, erweist sich heute als die einzige zukunftstaugliche: nämlich eine nachnationale Welt bewusst zu gestalten. Mit anderen Worten: in Hinblick auf die Gestaltung der Globalisierung hätte die EU die größte Expertise. Denn genau das, was jetzt notwendig wäre, versucht das europäische Projekt, einzigartig in der Welt, bereits seit mehr als siebzig Jahren. 

Wenn wir also wirklich über das Entstehen einer neuen Weltordnung diskutieren, dann sollten wir davon ausgehen: die neue Weltordnung wird die nachnationale Welt sein, und in der gegenwärtigen historischen Phase des Nicht-mehr-Noch-nicht ist die Europäische Union die Avantgarde. 

Oder wäre es. Ich fragte, wie ging es nach den ersten Schritten weiter? Ideen leben zunächst durch die Menschen, die sie in die Welt setzen und sie beharrlich Schritt für Schritt durchzusetzen versuchen. Aber nach mehr als siebzig Jahren, das muss man leider sagen, sind diese Menschen, die Gründer des europäischen Gemeinschaftsprojekts und auch die Baumeister der letzten großen Erfolge der Union, alle tot. Politiker wie François Mitterand oder Helmut Kohl zum Beispiel wussten noch, dass ihre jeweilige Innenpolitik immer auch Europapolitik sein musste, ein Kommissionspräsident wie Jaques Delors wusste noch, was die Aufgabe der Kommission war, nämlich Schritt für Schritt in der Vergemeinschaftung weiter zu gehen, und mit jedem kleinen Schritt das, was nicht gleich möglich war, als nächsten Schritt zu planen und zu ermöglichen. Was sie hinterlassen haben, ist eine Halbwegs-Union, die auf dem halben Weg stehen oder stecken geblieben ist, weil die nächste Generation deren Erfahrungen nicht hatte, die Union, so wie sie war, vorfanden, sie als gegeben hinnahmen, und nicht verstanden, dass sie weiterentwickelt werden musste. Ihre Erfahrung war und ist bloß: sie werden national gewählt, sind durch nationale Wahlen in Machtpositionen gekommen und müssen nun in diesem vorgefundenen Rahmen der EU nationale Interessen verteidigen. Was immer das sein soll. Was im Interesse eines Österreichers ist, müsste doch auch im Interesse eines Deutschen, Portugiesen oder Griechen oder Tschechen und so weiter sein. Außer man definiert nationale Interessen so: Nationale Interessen sind die Interessen nationaler Eliten. Jedenfalls: Dadurch kam das bisher Erreichte in Konflikt und Widerspruch mit den alten Systemen, die verteidigt werden und die es doch vernünftig zu überwinden galt. Wir haben einen gemeinsamen Markt, im Grunde bereits eine aggregierte europäische Volkswirtschaft, bilanzieren aber immer noch nationalökonomisch, wodurch zum Beispiel Waren, die in Deutschland produziert und in Griechenland konsumiert werden, in der deutschen Exportstatistik aufscheinen, und in der griechischen Haushaltsschuld. Dann werden Griechen von den Deutschen dafür bestraft, dass sie deutsche Waren konsumiert haben, was die deutsche Industrie eigentlich wollte. Wir haben eine gemeinsame Währung, aber keine gemeinsame Finanzpolitik, was zu der Groteske führt, dass wir zum Beispiel je nachdem, wo wir leben, eine verschieden hohe Inflation haben, völlig unterschiedliche nationale Positionen in Hinblick auf Investitionen oder Schulden, oder eine surreale Diversität von staatlichen Finanzleistungen für die Bürgerinnen und Bürger. Wir haben ein europäisches Parlament, also eine europäische Volksvertretung, die erste supranationale Volksvertretung in der Geschichte, können aber bei Europawahlen nur nationale Listen wählen, was natürlich zu dem Unsinn führt, dass viele Bürgerinnen und Bürger, die glauben, dass es tatsächlich um die Repräsentation nationaler Interessen und nicht um Gemeinschaftsrecht geht, Nationalisten wählen, die dann nur Obstruktion im Parlament betreiben. Wir haben Niederlassungs- und Arbeitsfreiheit in der EU, können aber dort, wo wir arbeiten und Steuern zahlen, nicht wählen, wenn wir nicht den Pass des Landes haben, in dem wir arbeiten, sondern können nur dort wählen, wo wir nicht mehr leben, nicht arbeiten und keine Steuern zahlen. Wir bezeichnen die Union als demokratisch, haben aber siebenundzwanzig völlig verschiedene Demokratiesysteme, deren einzige Gemeinsamkeit es ist, dass die Inhaber nationaler Pässe national wählen dürfen. Es gibt innerhalb der Union demokratische Republiken und konstitutionelle Monarchien, zentralistische und föderale Demokratien, Systeme mit Zweitstimmen oder mit nur einer Stimme oder mit der Möglichkeit einer Vorzugsstimme, mit plebiszitären demokratischen Elementen oder mit strikt repräsentativer Demokratie, mit Mehrheitswahlrecht oder Proporzwahl. Und alleine die je nationale Wahlarithmetik, das nationale System der Mandatsverteilung, führt zu einem Wahlergebnis, das mit der Wahlarithmetik eines anderen europäischen Staats ganz anders ausfallen würde – was ist jetzt objektiv der „Wählerwille“ der Europäer?  In manchen Ländern kann man mit 16 Jahren wählen, in anderen erst mit 18, wie sind die 16- bis 18-Jährigen dieser Länder demokratisch repräsentiert? Die Entwicklung einer gemeinsamen, europäischen, also nachnationalen Demokratie wäre unerlässlich, will sich Europa in Zukunft als demokratisch bezeichnen. Aber in Europas Reich der Vorstellung hält die Idee nicht stand. Weil unter den politischen Eliten die Idee nicht mehr erklärt und verteidigt wird. So entstehen aus den Widersprüchen zwischen der steckengebliebenen nachnationalen Entwicklung und der starren Verteidigung nationaler Souveränität genau jene Hilf- und Perspektivlosigkeit, sowohl der europäischen Institutionen als auch der nationalen Regierungen, die allgemein als Krise erlebt wird. 

Die Krise frisst mittlerweile die Seele der Union auf. Die Europäische Union ist von der Gründungsidee her bekanntlich ein Friedensprojekt. Aussöhnung, Friede – darauf konnten sich die Mitglieder der Union zu unser aller Glück einigen – aber natürlich nicht zu einer gemeinsamen Friedens- und Sicherheitspolitik. Wieder einmal der typische Widerspruch: Friede der Union in pathetischen Sonntagsreden, aber Friedens- und Sicherheitspolitik national. Ich stelle mir vor, wie Putin fragt: Wie viele Divisionen hat denn die europäische Friedensidee?

Als ich vor etwa zehn Jahren schrieb, dass Europa den Frieden auch verteidigen können müsse, erntete ich einen Shitstorm. Ob ich vielleicht für militärische Aufrüstung sei, für Vorbereitung zu einem Krieg? Der defensive Pazifist in mir wurde von militanten nationalen Pazifisten niedergeprügelt. 

Jetzt, bedroht durch Putins Aggression, wird dieser eigentlich simple Gedanke, dass ein Friedensprojekt auch seinen Frieden verteidigen können müsse, nicht nur Mainstream, er führt auch zu Entscheidungen. Und sie sind wieder falsch. Die Kommission gibt Milliarden frei zur Finanzierung der Verteidigung – aber jeder Mitgliedstaat soll alleine für sich aufrüsten. Auch wenn eine französische Patrone nicht in ein deutsches Sturmgewehr passt, egal, jeder für sich. Eine österreichische Aufrüstung wird weder für eine gemeinsame europäische Verteidigungspolitik ein relevanter Faktor sein, und für die solipsistische Verteidigung der Neutralität schon gar nicht, egal, Österreich soll das Budgetdefizit verringen und die Schulden für Waffensysteme erhöhen. Und die nationalen Staatschefs beben vor Nervosität, weil sie sich womöglich nicht mehr auf US-Hilfe verlassen können, statt sich zu fragen, warum sie es die längste Zeit so selbstverständlich fanden, dass ein souveränes demokratisches Europa unter dem militärischen Oberbefehl der USA stehen müsse. Sie halten die Verteidigung beziehungsweise Restauration des Gewohnten, auf das sie sich so lange glaubten verlassen zu können, für Pragmatismus, und unterwerfen sich sogar der kiss-my-ass-Forderung Trumps, statt sich zu fragen, wie unter den gegebenen Umständen die reale Notwendigkeit, nämlich ein freies, souveränes, nachnationales Europa pragmatisch entwickelt werden könnte, als Vorbild für die Welt, in der nationale Souveränität erwiesenermaßen abstirbt. 

Die Zukunft der Welt beginnt in Europa – wenn wir uns klar machen, dass es nicht politischer Pragmatismus ist, wenn wir uns irgendwie in den Dynamiken der Zeit einrichten, uns für sie „fit“ machen, wie oft gesagt wird, nein, das ist nicht Pragmatismus, sondern Unterwerfung. 

Wie sehen wir denn heute Politiker, die Ende der 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts Pragmatiker in diesem Sinne waren und meinten: Der Trend geht eindeutig in Richtung Faschismus in Europa, jetzt gilt es also, für den Faschismus fit zu sein? Finden Sie diesen „Pragmatismus“ rückblickend für vernünftig? Oder: stellen Sie sich Arbeiter in der Zeit des Manchester-Kapitalismus vor, die Hungerlöhne bekamen, Familien, die kaum über die Runden kamen, obwohl sogar die Kinder in den Fabriken arbeiteten. Würden Sie sie heute als Pragmatiker bezeichnen, wenn sie gesagt hätten, sie müssen „fit“ für den Hunger werden? Sie haben gegen größten Widerstand bessere Löhne, 8-Stunden-Tag, Verbot der Kinderarbeit durchgesetzt, und das ist es, was ich Pragmatismus nenne, der von der Zukunft bestätigt wurde. Die Kraft der faktischen Blockaden darf für uns nicht normativ werden, ungünstige Kräfteverhältnisse dürfen nicht den Rahmen des Machbaren definieren. Zumal die neue Weltordnung, die in Europa entsteht, selbst schon Fakten geschaffen hat, auf denen aufgebaut werden kann. Ich sagte schon, dass Europa in Hinblick auf nachnationale Gemeinschaftspolitik Avantgarde ist. Zukunftsweisend wäre, dies mit Selbstbewusstsein zu verbinden, und mit der Einsicht, dass die Harmonisierung weiter gehen muss. Denn das, was in Europa als Krise erlebt wird, ist nichts anderes, als die Konsequenz des unproduktiven Widerspruchs zwischen Gemeinschaftspolitik und Renationalisierung, die jeglichen Fortschritt blockiert.

Ich habe gesagt: Alles was in der Geschichte einen Anfang hatte, hatte schließlich auch ein Ende. So können wir die gesamte Menschheitsgeschichte zusammenfassen, und so sollten wir auch auf die gegenwärtigen Entwicklungen blicken. Das heißt jetzt: wir müssen uns fragen, was geht zu Ende, wenn wir jetzt wieder einmal vom Entstehen einer neuen Weltordnung reden, und was ist im historischen Maßstab im Entstehen begriffen?

Da könnten wir feststellen: wenn in einer Weltordnung, definiert durch Nationalstaaten, sich die Gewichtung der Nationalstaaten ändert, ist das keine neue Weltordnung, die wirklich neue Weltordnung entsteht durch die schleichende Entmachtung der Nationalstaaten.   

Ich sagte schon: Globalisierung bedeutet Zerstörung der Souveränität von Nationalstaaten, und EU bedeutet, zumindest dem Anspruch nach, Gestaltung einer nachnationalen Welt. Ich glaube nicht, dass es jemanden gibt, der imstande wäre, schlüssig zu argumentieren, dass eine Welt, die politisch in Nationalstaaten organisiert ist, das Ende der Geschichte sei. 

Dass heute die größten und militärisch stärksten Nationalstaaten sich in dieser Situation zum Welthegemon aufwerfen wollen, widerlegt den Befund nicht. Angeblich wachsen bei Toten noch die Fingernägel. Auch wenn sie sich zu Krallen auswachsen, es sind die Krallen von objektiv Toten. Sie können verletzten, sie können schockieren, aber die Geschichte geht weiter, die Geschichte derer, die das Leben organisieren. Es ist ein langer, widersprüchlicher Prozess, dessen Ende wir nicht erleben werden, in den wir aber verstrickt sind, und in dem wir handeln müssen. 

Das ist die Frage, die ich Ihnen stellen wollte: Wie gehen wir damit um, was sind die Leitsterne unserer Handlungen? Ich weiß nichts Besseres, als die Vernunft der europäischen Idee zu verteidigen. Die Verteidigung der Idee verlangt Kritik. Wir dürfen nichts schönreden, wenn wir es gut machen wollen. Wir müssen die unproduktiven Widersprüche der Union kritisieren, wir müssen uns an die Geschichte und ihre Lehren erinnern, wir müssen träumen und damit unseren Pragmatismus begründen, wir müssen immer wieder daran erinnern, dass es um Gemeinschaftspolitik geht, um einen gemeinsamen Rechtszustand, durchsetzbar, verteidigbar. Es geht wirklich um eine neue Weltordnung. Eine Weltordnung, für die Europa als Vorbild, nicht als Hegemon stehen wird.

Wenn Sie glauben, dass kann es nicht geben – hören Sie, wie Kleisthenes lacht?

Erinnern Sie sich, wie lange es immer gedauert hat, bis Epochenbrüche sichtbar wurden!

Wenn wir in die Geschichte blicken, bewundern und verehren wir doch immer diejenigen, die erkannt haben, was an gesellschaftlichen und politischen Fortschritt im Entstehen war und kommen musste, und die daran gearbeitet haben, auch wenn die alten Mächte noch machtvoll schienen. So sollte man einmal auf uns zurückblicken. 

Unsere Enkelkinder werden danken!