Gabrielė Brazaitytė

Der letzte Pausengong ertönt. Er klingt wie eine Schulklingel, die eine Kirchenglocke nachahmt. Während das Licht erlischt, blickst du zum letzten Mal auf die zwei unverschämt dicht neben dir sitzenden Unbekannten: Eine ältere Frau rechts und einen Mann mittleren Alters mit aufgeknöpftem Hemdkragen links. Es ist dunkel im Saal und alle blicken auf die Menschengestalten, die auf der Bühne erschienen sind. Sie sprechen in Shakespeares Worten, weinen, obwohl es ihnen nicht wehtut, lachen, weil es so geschrieben steht, und lieben, obwohl sie dazu nicht fähig sind, sobald sie die Bühne verlassen haben. Und wir – eine Schar Fremder – beobachten aus der Dämmerung des Saals das im Rampenlicht gespielte Leben – selbst leben können wir eben nicht.

So sah vor dem globalen Unheil ab und zu für manche Leute der Sonntag im Theater aus. Die damals noch unbekannte Krankheit, die die Staatsgrenzen geschlossen hat, versperrte auch die Türen von Theatern, Galerien, Schulen, Universitäten und Künstlercafés . Eine Weile tauchten Theaterregisseure und Museumsleiter noch in der Tagesschau auf und machten sich öffentlich Sorgen ums Überleben. Bald aber wurden ihre Gesichter durch die der Kaufleute ersetzt, die um Unterstützung flehten. Die Kulturvertreter verstanden, dass das Zeitalter der Lieferanten, Online-Shops und Zoom-Dates gekommen sei, und verstummten, wie es sich für Menschen mit Kultur gehört. Eine Zeit lang wurde versucht, Kultur in den digitalen Raum zu verschieben, bald  aber verstand man, dass es mit einigen Hunderttausenden Pixeln nicht möglich ist, das zu vermitteln, was zuvor mit einem einzigen, aber lebendigen Wort, mit einem lebendigen Blick oder einer Bewegung gelungen ist. Selbst als es klar wurde, dass die Kultur am Frühlingsanfang in den Winterschlaf gehen muss, wiederholte man wie eine Mantra: Kultur wird überleben, solange der Zuschauer, Leser, Besucher, Sprecher und Zuhörer überlebt. Und das wird er ja. Das aber war  falsch.

Die Pandemie war nur die Zuspitzung der seit langem wachsenden Kluft zwischen Gesellschaft und Kultur. Winston Churchills Rezept für Langlebigkeit – steh nie, wenn du sitzen kannst, und sitze nie, wenn du liegen kannst – ist eine elegante Illustration der im menschlichen Unterbewusstsein erhaltenen Überreste der angeborenen Faulheit, die einem helfen soll, sich an die rauen Umweltbedingungen anzupassen. Wir glauben, dass wir eingesperrt und gelähmt sind, tatsächlich hat aber die Quarantäne lediglich günstigere Bedingungen dafür geschaffen, was wir schon bisher gemacht haben: die Welt durch die Kontaktlinsen der Sozialmedien und Influencer beobachten, die Nachrichten nur anhand Überschriften konsumieren, zu jeder Frage eine Meinung haben, aber keine Entscheidungen treffen und sich über nichts wundern. Obwohl wir schon lange vom wachsenden Individualismus und der zerspalteten Gesellschaft hören, stellen sie erst heute eine echte Bedrohung dar. Wir leben in einer Ära von Fake-News, Zerrbildern und sozialen Blasen, die an unsere persönlichen Bedürfnissen angepasst sind, so dass wir gar nicht wissen, welche Stimmungen unter unseren Landsleuten tatsächlich herrschen. In sozialen Netzwerken gehören wir zehn Gemeinschaften und Gruppen an, kennen aber nicht den Namen des Nachbarn, der mittwochs abends laute Musik hört. Wir erleben die vermeintliche Gemeinsamkeit, wenn wir auf den Like-Button unter Einträgen vermeintlicher Freunde drücken, dabei haben wir aber vergessen, wie sich die eigenartige, rituell anmutende Einigkeit anfühlt. Sie verspürten wir eben, als wir gemeinsam beobachteten, wie Schauspieler uns auf der Bühne das Leben vorspielen.

Als wir Museen, Universitäten und Bars noch frei betreten durften, hatten wir die Möglichkeit, an der Gesellschaft teilzunehmen und zur Kultur beizutragen. Nachdem wir aber diese Möglichkeit verloren haben, müssen wir uns der angeborenen menschlichen Faulheit stellen: Wir nähern uns einer Grenze, hinter der die Kultur keinen Wert mehr für uns haben wird. Noch schlimmer: Sie wird von der Pseudo-Kultur der sozialen Blasen und Facebook-Gruppen assimiliert, wobei das, was wir heute Kultur nennen, für den Zukunftsmenschen nutzlos sein wird. Sieht man eine Ankündigung einer Veranstaltung im Facebook-Feed – der heute zur Haupquelle der Information geworden ist – genügt es, einen Knopf zu drücken – „Interessiert“ oder „Zusagen“. Leider bedeutet es nicht die Absicht, an irgendetwas teilzunehmen, sondern eher den Wunsch den virtuellen Freunden zu zeigen, dass man immer noch an etwas interessiert ist. So ziehen Veranstaltungen, die online Hunderte Interessenbekundungen und Teilnahmezusagen bekommen haben, in der Realität nur einige wenige Enthusiasten an. Dies ist ein Zeichen der wandelnden Funktion von Kultur und Kunst: Anstatt nach  geistiger Weiterentwicklung und Gemeinschaftsgefühl zu streben, versuchen wir, uns selbst (aber noch mehr den anderen) zu beweisen, dass wir vollwertige Geschöpfe sind. Abgesehen davon ist es für uns wichtiger, ein Image von etwas abzugeben, als es tatsächlich zu verkörpern. Deshalb ist der Nobelpreis für Literatur nicht nur für den Preisträger ein Grund zum Feiern, sondern auch für den Verlag, der fortan Bücher des Nobelpreisträgers herausgeben wird. Und noch mehr für den Leser, der bisher kein Interesse für die Bücher des ausgezeichneten Schriftstellers gezeigt hatte, jetzt aber mit dem in das Bücherregal gestopften Werk des Preisträgers angeben kann. Es ist ärgerlich, dass dem Menschen von heute nicht der Inhalt wertvoll ist, sondern das Etikett.

Obwohl wir Individualisten geworden sind, gibt es dennoch eine Form der Gemeinsamkeit, für die die heutige Gesellschaft besonders empfänglich ist. Und zwar die öffentliche Massenverurteilung, auch als Cancel-Culture bekannt. Begeht einer einen Fehler, erwacht in uns die ungezügelte Rechtschaffenheit und der unkontrollierbare Wunsch, die Fehler des anderen zu beweisen. Cancel-Culture kann auf zwei Arten betrachtet werden. Auf der einen Seite handelt es sich um eine Form des Dialogs: Die Mehrheit versucht, Vertreter der Elite zu erreichen, die gegen die Moral verstoßen haben und keine gesetzliche Strafe erhalten haben. Da einflussreiche Personen in hohen Ämtern unerreichbar sind, zeigen die Menschen ihren Willen durch Boykott. Es stellt sich aber die Frage, woher dieser Drang in der Menschenmenge entsteht, einen anderen Menschen zu verurteilen, der vielleicht reicher ist und vielleicht ein teueres Auto hat, aber eben nur ein Mensch ist? Andererseits, wenn wir Personen, die sich der vorherrschenden Meinung widersetzen, „annullieren“, tragen wir zur Schweigespirale und dazu bei, dass man Angst hat, öffentlich die eigene Meinung zu vertreten.

In der wandelnden Gesellschaft verändern sich auch die Konzepte. Zum Beispiel ist das Image einer starken, herrischen und selbstständigen Frau jetzt Mode geworden. Obwohl die Frauenemanzipation und die Debatten über die Gleichberechtigung von Mann und Frau ein progressiver und notwendiger Prozess ist (man muss nur an den Fall denken, als sich Ursula von der Leyen letztlich auf einem offiziellen Treffen  nicht mit den Führungsmännern setzen durfte), wird das genannte Konzept missbraucht. Man schreibt Lieder über starke Frauen, aufgeführt werden sie aber von perfekt aussehenden Sängerinnen, die jeden Schönheitsstandard erfüllen. Auf diese Weise wird der Körper der Frau wieder zur Ware. Willst du etwas verkaufen – erzähl von starken Frauen; willst du beim Grand Prix glänzen – singe über starke Frauen. Eine durchaus treffende Veranschaulichung dieses Pseudo-Fortschritts sind die Veränderungen in Spielzeugläden. Früher lockten Barbie-Puppen in engen Plastikverpackungen die Mädchen mit ihren rosaroten Röckchen im Spielzeugladen. Jetzt gibt es Barbies, die Arztkittel oder Lehrerbrillen tragen, das Wesen der Sache hat sich aber nicht verändert. Es sind immer noch in Plastikverpackungen gequetschte Puppen, die unerreichbare Schönheitsstandarts setzen. Wenn diese Mode in der Plastikbox bleiben würde und nur als Mädchenspielzeug dienen würde, wäre es lediglich ein ein fettes Thema für öffentliche Debatten. Die Massen haben aber Frauen ins Visier genommen, die dem auferlegten Ideal nicht entsprechen. Im Rahmen des vermeintlichen Feminismus gilt eine junge Frau, die davon träumt, zu heiraten und eine Familie zu gründen, als schwächer. Die Gesellschaft zwingt einem ein Erfolgsrezept auf und schürt einen Konflikt zwischen der Entscheidung, beruflichen Erfolg anzustreben und dem Wunsch, eine Familie zu gründen. Frauen, die sich für die erste Option entschieden haben, werden öffentlich verherrlicht, wobei man die anderen bemitleidet und glaubt, dass man so für die Rechte der Frauen kämpft.

Ähnliches geschah mit dem weit verbreiteten Begriff der Selbstliebe. Eigentlich hat niemand so richtig geklärt, was das bedeutet. Für manche ist Shopping Selbstliebe, für die anderen sind es Gesichtsmasken, Schaumbäder und leckere Abendessen. Wiederum andere schwärmen von  Meditation und der Auseinandersetzung mit den eigenen Gefühlen. Junge Menschen brechen das Studium ab und begeben sich auf  Selbstsuche. Dabei merken sie nicht, dass sie sich von den selbst gesetzten Zielen entfernen. Ungezügelter Individualismus und die Überzeugung, dass die Antworten auf alle Fragen des Lebens im Menschen selbst zu finden sind, sind wohl das auffälligste Symptom der modernen Gesellschaft. Während wir auf unser Inneres blicken, vergessen wir, dass wir ohne die Außenwelt – ohne andere Menschen, Bücher, Natur – wie leere Fässer sind und dass das übertriebene In-Sich-Hineinschauen der direkte Weg zu einer noch größeren Enttäuschung ist. Traut sich einer zu sagen, dass man bei der Sinnsuche versuchen sollte, die Welt besser zu verstehen, oder dass Frauen eigene Entscheidungen über ihren Lebensweg treffen sollten, wird er der Ketzerei beschuldigt und der Möglichkeit beraubt, am öffentlichen Dialog teilzunehmen, nur weil er der Mehrheitsmeinung widerspricht. Es ist paradox: Wir nutzen jeden Tag soziale Netzwerke, sind aber weniger sozial und intoleranter geworden.

Das zeigt sich auch an den alltäglichen Gewohnheiten. Die scheinbare Möglichkeit, die Zeit zu kontrollieren – ein Video zu beschleunigen und zurückzuspulen, die sich wiederholenden Sequenzen eines Musikstücks zu überspringen und gleich die Reprise in ihrer ganzen Größe ertönen zu lassen – führte dazu, dass Menschen verlernt haben, Geduld zu haben. Wenn wohl fast kein Mensch mehr bereit ist, jeder vom Komponisten geschriebene Note zu lauschen, ist es kein Wunder, dass man auch kein Ohr für die Sorgen eines anderen Menschen hat. Dadurch, dass wir die Zeit im virtuellen Raum kontrollieren und somit in jedem Moment etwas sofort genießen können, haben wir vergessen, dass ein Gespräch nicht immer zu einem Höhepunkt führen muss: Das Wesen des Dialogs besteht nicht nur darin, Nachrichten oder Botschaften zu vermitteln. Wir haben vergessen, dass die sich nach Nähe sehnenden Menschen das Gespräch mit uns suchen, weil sie gehört werden wollen – wie musikalischen Sequenzen oder dem Wellenschlag gelauscht wird. Wenn es möglich ist, Heiligkeit durch Wasser zu übermitteln, sollte es mit Worten doch noch einfacher sein.

Der fehlende Dialog, den wir nicht mehr erleben, ist eben die tatsächliche zeitgenössische Kultur oder eine scheußliche Grimasse von ihr. Die großen Kulturwissenschaftler haben das Kulturphänomen immer in die elitäre und die gesellschaftliche Kultur bzw. in  Kultur als höchste kreative Leistung und Kultur als Lebensweise unterteilt. Dabei versuchten sie stets, den Dialog zwischen  beiden Dimensionen aufzuzeigen. Kultur erschließt die sensible Seite des Menschen. Sie fördert das Zuhören und die Geduld. Aufgrund unserer angeborenen Faulheit und der überall verschlossenen Türen wird die Kultur in allen ihren Formen weniger gefragt und nicht mehr nötig. Das Theater, in dem Dutzende von Fremden universelle Erfahrungen erkannten und sie wieder erlebten, indem sie gespielte Tränen oder das Lächeln im Gesicht des Schauspielers sahen; Bars, in denen junge Menschen zusammenkamen, um das zu besprechen, was ihnen auf der Seele liegt; Ausstellungen, die dem regnerischen litauischen Land überzeugend von dem unter Dürren leidenden afrikanischen Kontinent erzählten und somit diese fernen Länder und vor allem ihre Leute näher brachten. Die lebendige, atmende Kultur brachte uns zusammen. Nachdem die Welt ihre Türen verschlossen hat, bleiben nur soziale Netzwerke übrig, die anstatt uns zu verbinden, Individualismus, Selbstbezogenheit und Eigennützigkeit fördern. Wenn es um Dialog geht, ist es ist daher sehr wichtig, über Kultur zu sprechen. Laut dem deutschen Ethnologen Wilhelm Schmidt hat der kulturschaffende und der kulturell agierende Mensch eine räumliche und zeitliche Existenz. Aber alles, was im Raum und in der Zeit existiert, geschieht durch Verbindungen und durch Dialog. Kultur ohne Dialog ist dem Untergang geweiht.

Vielleicht ist unsere Lebensunfähigkeit nicht so schlimm: Immerhin haben wir Jahrzehnte dafür. Schlimmer wäre es, wenn wir uns nicht mehr ab und zu versammeln würden, um uns das auf der Bühne gespielte Leben anzuschauen. Und am schlimmsten wäre es, wenn wir dabei nichts mehr spüren würden.

Aus dem Litauischen von Jūratė Žukauskaitė