Mikas Danilevičius

Ich entschuldige mich im Voraus dafür, dass ich mit einer dramatischen Erklärung beginnen werde. Dieser Prozess – der Schreibprozess – bereitet mir große Schmerzen. Es ist eine Qual. Wenn ich die Tasten drücke, bin ich wie ein unerfahrener Akupunkteur, der allzu schmerzhaft auf dem eigenen Körper herumsticht: Wenn wir Schriftzeichen verwenden, vergessen wir, dass jedes davon für jemanden Todesqualen bedeutete. Es ist natürlich keine Neuigkeit. Mich überkommt aber trotzdem der Neid, wenn ich höre, dass unsere großen Schriftsteller, wie Kunčinas oder Beresnevičius, angeblich ohne jegliche kreative Qualen und Komplexe schreiben konnten. Zumindest wird es so in den verschwörerischen Kreisen in Vilnius geflüstert. Dieser Text ist übrigens zweifellos von Anfang bis Ende vom Beresnevičius’ Geist durchdrungen. Jedes Symbol und jedes Wort ist hier von Beresnevičius geprägt und dagegen kann nichts getan werden.

            Mir kommt ein interessantes Ereignis an der Meeresküste in den Sinn, weil es auch voller Leiden war. Während des Grundwehrdienstes im Dragonenbataillon hatte ich das Vergnügen, samt aller Kleidung im Dezember ins düstere Meer zu stürzen. Dieses Ritual müssen die Rekruten durchstehen, um das Barett der Dragoner tragen zu dürfen, denn das Recht auf diese Kopfbedeckung muss aus irgendeinem Grund auf diese Art verdient werden. Eine Kompanie von jungen Männern, die meisten von ihnen achtzehn oder neunzehn Jahre alt, läuft aus dem Wald heraus an die Küste und dann ins Meer; während die Offiziere ihnen zurufen, fallen die jungen Männer zu Boden und machen Liegestütze, dann Situps, wobei sie sich mit den Armen zu einer Kette verhaken. Und ich bin einer von ihnen: Im grauen Meer schaue ich auf den grauen Winterhimmel und spüre Salz im Mund und in den Augen. In den folgenden Monaten meines Militärdienstes werde ich noch mehrere Male absichtlich und unabsichtlich ins Wasser fallen müssen, das um kein Grad wärmer sein wird. Aber nur das eine Mal erinnerten mich die Berührungen des sich zurückziehenden und wieder aufprallenden Meeres an den Biss eines Hundes in meiner Kindheit.

            Wie soll man denn dieses wiederkehrende litauische Küstenereignis erklären? Nabokov schrieb darüber, wie die Soldaten in der russischen Militärflotte beim Ertrinken plötzlich in die Kindheit zurückversetzt werden und ihr ganzes Leben vor ihren Augen sehen, und wie ein Psychoanalytiker dies als eine Berührung mit dem Wasser erklärt, die der Taufe gleich sei und durch das Gedächtnis eine Verbindung zwischen dem ersten und dem letzten Eintauchen herstelle. Wenn wir aber das ewig faszinierende Genre der russischen Esoterik verlassen, sollten wir das Baden der Dragoner vielleicht eher mit der Religion der Eisernen Inseln aus der von R. R. Martin erschaffenen Welt vergleichen? Er lässt die Wikinger ähnlichen rauen Fabelpiraten sich im Meereswasser taufen und den Ertrunkenen Gott anbeten.

            Versuchen wir eine kulturelle Interpretation dieser Situation aus einer weiteren Perspektive. Ein weiser Mann hat mir mal erzählt, dass verschiedene Indianerstämme im südamerikanischen Dschungel des Amazonas Ayahuasca trinken – einen psychedelisch wirkenden Trank. Wenn der Pflanzensud wirkt, erleben die Indianer klar und deutlich die Welt der Geister, in der sie Totems eines anderen Stamms entführen und verbergen und somit innerhalb ihrer Halluzinationen einen Krieg gegen den Stamm führen. In einigen Ländern Zentralasiens ist es für den Bräutigam sogar heute noch üblich, seine Frau vor der Hochzeit zu entführen, auch wenn sie zuvor miteinander ausgegangen sind. Und wo wir schon bei Kuriositäten sind, könnte man noch das Barbarenland an der östlichen Ostseeküste erwähnen: Dort stürzen junge Männer aus dem Stamm der Litauer jeden Winter ins eiskalte Meer und führen bestimmte körperliche Übungen aus, um eine spezielle Kopfbedeckung des Kriegers zu bekommen. Vielleicht könnten Wissenschaftler diesen Brauch mit der Erzählung von Herodot über die barbarischen Persier verbinden, deren König Dareios seinen Soldaten befahl, das Meer mit Schwertern niederzuhauen, nachdem es die zwischen Asien und Helespont geschlagene Brücke zerstört hatte.

Diese Geschichte hat ihrerseits eine interessante Verbindung zu den Brüdern der Natterkönigin Eglė, die ihren Schwager Žilvinas an der Küste mit Sensen zerhackten. Behelmte im Wasser stehende litauische Soldaten könnten ferner an die historisch-mythologische Erzählung von der Schlacht bei Orscha erinnern, wo die siegreichen Litauer angeblich ihre Durst mit blutigem Wasser aus dem Fluss voller Leichen stillten. Die Schlacht bei Orscha verdient besondere Aufmerksamkeit: Hier hat man nämlich den Artillerieangriff aus dem Hinterhalt zum ersten Mal in der Militärgeschichte erfolgreich eingesetzt. Somit wurde der Welt die erste der drei großen litauischen Erfindungen präsentiert, die wie bekanntlich der Artillerieangriff aus dem Hinterhalt, Kalter Borschtsch und der mächtigste Laser der Welt sind.

            Da wir noch keine kulturelle Erklärung für dieses Ritual gefunden haben, betrachten wir doch die Sache nochmals von einer anderen Seite. Vielleicht bringen die Soldaten der Landstreitkräfte auf diese dramatische Art – indem sie in der kalten Jahreszeit ins Meer rennen – unbewusst die Ambition des Staates zum Ausdruck, zu einem Seestaat zu werden und so den tief versteckten vom Nebel des Unterbewusstseins umhüllten Ehrgeiz zu verwirklichen? Sie verlassen den schützenden Wald, begeben sich an die bisher unbetretene Meeresgrenze, wo sie sich beim Eingeborenengesang in eine andere Zivilisation stürzen – in das absolute Meer, das alles kompromisslos umfließt.

            Das Konzept eines Seestaates ist ganz einfach. Es ist ein Staat, der intensiv Schifffahrt betreibt und sowohl militärische als auch kommerzielle Flotten besitzt. Seine Macht beruht auf dem Meer und der Seeherrschaft. Seewege eignen sich am besten für den Warentransport, daher werden Seestaaten automatisch zu reichen merkantilistischen Zentren, die für Handel besonders geeignet sind – so wächst die Anzahl von reichen Kaufsleuten im Land. Ankömmlinge aus verschiedenen Ländern machen das Land zu einem Schmelztiegel verschiedener Stämme, Kulturen und Denkweisen.

            Ein Seestaat, der von der Flotte beschützt wird, kann es sich leisten, kleinere Landstreitkräfte zu haben. Dies ist wichtig, weil ein starkes von einem Menschen geführtes Militär dann die Macht übernehmen und sie einem Tyrannen oder sich selbst übergeben kann – einer Minderheit, die sich Waffen leisten kann und gelernt hat, sie einzusetzen. Schließlich war eines der Hauptziele der Armee vor nicht allzu langer Zeit neben der Verteidigung vor dem äußeren Feind die Beschützung des Staates vor Volksaufständen. Die Förderung der Militärflotte anstatt der Landstreitkräfte geht also Hand in Hand mit der Etablierung der Demokratie und gleichzeitig der Freiheit im Staat.

            Als Beispiel für einen solchen Staat kann man die Polis Athen nennen. Der Stadtstaat wurde immer stärker und entschied sich unter der demokratischen Führung von Themistokles für den Bau der stärksten Militärflotte in Griechenland. Die Athener handelten nach einer einfachen Logik: Trotz der siegreichen Schlacht bei Marathon gegen die Perser konnte Athen in der damals vorherrschenden Hoplitenkriegsführung nicht mal mit seinen Nachbarn mithalten, geschweige denn mit Sparta. Indessen hatten sie die Chance, die Besten auf See zu werden.

Die Strategie hat sich bewährt: Nach dem Sieg in der Seeschlacht von Salamis rettet Athen Griechenland vor der persischen Invasion. Nachdem Sparta in den Hintergrund rückt, setzt Athen den Krieg gegen Persien fort und trägt zur Befreiung der griechischen Städte in Asien bei. Diese Städte, samt der ganzen Ägäis und ihren Inseln, werden zum Rückgrat des Seestaates Athen. Die attische Demokratie breitet sich in der griechischen Welt aus und man sieht den Aufstieg eines Reichs, das vom demokratischen Athen geführt wird. Die Trireme seiner unvergleichlichen Militärflotte pflügen durch die Meere vor den griechischen Küsten.

            Man könnte weitere ähnliche Staaten nennen: die im Mittelalter entstandenen Republiken Venedig und Genua, die im Mittelmeer herrschten; das niederländische und das britische Kolonialreich, die die ganze Welt umfasst haben (es muss allerdings auf die nach dem Bürgerkrieg in England eingeführte Diktatur hingewiesen werden, die dadurch entstand, dass das starke Militär der Puritanisten die Macht übernahm); und natürlich die Vereinigten Staaten von Amerika heute.

Ohne Zweifel sind all diese Geschichten, von denen ich erzähle, eine unzulässige Vereinfachung und Verallgemeinerung. Die Essenz all dieser Beispiele ist aber die Beschreibung eines Staates, in dem das Leben freier und reicher ist, wo die Macht einem größeren Menschenkreis gehört und wo die Kerze der politischen Freiheit in der Hand eines einfachen Bürgers brennt, was das Wichtigste ist. Aus all dem kann man schlussfolgern, dass der Seestaat eher ein Konzept eines andersartigen Staates ist: eine Idee eines Landes, das sich ein ehrgeiziges Ziel gesetzt hat und einen Traum hat. Es ist ein Staat, der von mutig gesinnten und handelnden Menschen geführt wird, die stolz auf ihre Freiheit sind als Gegensatz zur Sklaverei. Diese Traumkultur ist von Natur aus dynamisch und integrativ, aber gleichzeitig robust und unschlagbar.

Aber hier macht sich der Leser womöglich Sorgen, dass das Konzept eines Seestaates vom Meer getrennt wird. Dennoch ist es eine reale Möglichkeit. Als die griechischen Denker vom Seestaat sprachen, sahen sie darin bei weitem nicht nur die verschiedenen Möglichkeiten der Kriegstaktik, d.h. wie Athen mit seiner Flotte und Sparta mit seinen Hopliten versuchen, einander zu zerstören. So zum Beispiel Pseudo-Xenophon, für den die athenische Demokratie von der Aufrechterhaltung der Militärflotte untrennbar war, denn die Massen, die für den Militärdienst an der Flotte mobilisiert wurden, gewinnen dann auch in der Politik an Bedeutung. Außerdem werde ein Seestaat kulturell zu einem kosmopolitischen Zentrum. Auch in Litauen wurden Diskussionen über die Unterscheidung zwischen See- und Kontinentalstaaten geführt. In einem schwer zu erhaltenden Buch, das bereits Kultstatus erlangt hat, wird der geheimnisvolle Schriftsteller Petras Dirgėla durch den Philosophen Vilius Bartninkas zum Reden gebracht. Er verrät die bedeutsame Stellung des Meeres in seinem historischen Epos und erzählt vom immer wieder im litauischen Volk erwachenden Drang, ins Meer herauszubrechen. Dem Meer werden die heimlichen Steinpfade unter der Sumpfoberfläche gegenübergestellt, die den Litauern die Flucht vor einem überlegenen Feind ermöglichten oder dazu verwendet wurden, den Feind in den Sumpf versinken zu lassen. Solche Pfade im Sumpf werden zu einer konservativen Option, ohne sich den Gefahren der endlosen Meereshorizonte stellen zu müssen, und das Meer wird zu einer Metapher für Ehrgeiz und Traum.

            Ich möchte dennoch einen etwas ketzerischen Gedanken anführen. Litauen war bereits aus den Sümpfen ausgestiegen und hatte bereits einen eigenen Prototyp eines Seestaates. Der kleine und isolierte Staat begann eine unerklärliche Expansion, wenn auch nicht ohne Widerstand. Die Sarazenen des Nordens an der Ostseeküste: der einzige Stamm, der die Kreuzzüge überlebt und ein Reich aufgebaut hat. Aber jetzt ernst und im Bemühen, so wenig wie möglich zu mystifizieren und zu verherrlichen: Wie kann man es erklären, dass das kleine Litauen es letztendlich geschafft hat, Kiew, das Zentrum einer riesigen Zivilisation, zu erobern? Der Sieg der Streitkräfte von Algirdas gegen die bis dahin ungeschlagenen Mongolen, der Zug über den Fluss Prypjat, in das ferne Moskau und darüber hinaus: Wie viel Mut, Ehrgeiz und Abenteuergeist haben diese geopolitischen Großtaten verlangt? Das Denken dieser Menschen musste ziemlich außergewöhnlich sein, und wenn wir die Vergangenheit betrachten, sehen wir den Litauer vielleicht zuerst als einen Abenteurer. Der Mut zu träumen offenbart sich als die Essenz der litauischen Identität.

            Und heute frieren die Eingeborenen dieser bis zu Schmerzen schönen Ebenen jeden rauen Winter bis auf Weiteres an der Küste. Wir können nicht so recht erklären, warum sie es tun, aber vielleicht schauen sie, während die Ostsee ihnen auf die Rücken brandet, auf das andere Meer mit einem verträumten Blick, der die Weiten zwischen dem einem und dem anderen Meer durchquert. Die Weiten, in denen die Tyrannei immer noch herrscht und in denen immer wieder ein neues Mordor entsteht; Weiten, zu denen das Reich der Güte und der Freiheit immer noch zurückkehren kann.

Aus dem Litauischen von Jūratė Žukauskaitė