Das, was für einen extrovertierten Menschen jede Menge Glück bringt und für einen introvertierten nicht weniger Stress bedeutet, ist die Tatsache, dass wir nicht alleine sind. Noch nicht völlig klar, wie es mit dem ganzen Universum bestellt ist, dennoch bewohnen wir zumindest die Erde mit anderen. Mit anderen Mitmenschen, unterschiedlichen Gemeinschaften, fremden Völkern und Nationen. Dies bringt Schwierigkeiten mit sich. Eine der Hauptspannungen beim Denken über den Menschen und die Menschheit stellt wahrscheinlich das Verhältnis zwischen einem Individuum und einem Kollektiv dar. Für Litauen, für das Land, welches öfters als Brücke zwischen Osten und Westen bezeichnet wird – obwohl 2022 diese Brücke eher zur Mauer geworden ist, – erscheint diese Spannung umso deutlicher: Westen bedeutete für dieses Land meistens das Individuelle, wenn einer stärker als viele ist, und Osten wiederum ist Synonym für das Kollektive, meisten das totalitäre Kollektive.

Analytische Konzepte greifen gerne zur Vereinfachung. Sie können als Skalen gesehen werden, die den Grad verdeutlichen, dennoch werden sie zum Werkzeug der Spaltung und der Trennung. Ok, der menschliche Verstand funktioniert teilweise so, er versucht das Eingangsmaterial in Regale einzusortieren. Jedoch ein soziales Gewebe – oder soziale Realität – passt in Regale nur zugeschnitten, und das bedeutet: vernichtet. So ist eben die Natur eines Gewebes; in diesem Fall aber erfolgt das Zuschneiden nicht durch eine Schere, sondern durch das Sehen des Ganzen als des Extremen. Eine eindeutige Aufteilung nach Osten und Westen, nach rechts und links, Vertrautem und Fremdem verzerrt die eigentliche Realität. Alles ist viel komplexer – ich bitte um Verzeihung für diese Plattitüde –, denn Formen können mit völlig andersartigem Inhalt gefüllt sein, als sie den Anschein haben.

Was wir allerdings machen können ist, uns ein Versuch vorzunehmen und die Vorgänge aufzuspüren, die nicht zerschneiden sondern verknüpfen. Sie bergen keine einst bestimmte Normativität in sich, sind weder „gut“ noch „schlecht“. Sie urteilen nicht, sondern beobachten, geben vielleicht einen bestimmten Blickwinkel vor, korrigieren aber das ganze Bild nicht und üben keinen wesentlichen Einfluss darauf aus. Beim Denken über das Zusammenleben von vielen Menschen könnte ein solches Schlüsselwort die Nachbarschaft sein – nein, nicht nur die geographische oder die nun häufig durchdeklinierte geopolitische. Ich möchte sie nicht als Zwischenglied hervorheben, obwohl sie als solches erscheinen mag, sondern als einzigartiges Erlebnis, welches auf fast allen Ebenen menschlicher Erfahrungen vorkommt. Ganz gleich, wie sozial wir sind, werden wir in unserem Leben einer begrenzte Zahl Menschen begegnen, und ein großer Teil von ihnen wird wahrscheinlich aus unserer Nachbarschaft kommen, es sei denn, man ist Diplomat oder ein vermessener Globetrotter. Die letzten sind eher Seltenheit, daher wird ein Mensch darin angesiedelt, was ihm nahesteht, unter solchen, die ihn umgeben und ihm ähnlich sind. Auch wenn wir nicht alle Nachbarn mögen, sowohl im Haus als auch in der Region, sind diese gewissermaßen uns gegeben. Das kann selbstverständlich zu Konflikten führen – bei den Menschen ist es selten anders gewesen, – aber betrachten wir die Nachbarschaft zunächst als Urmodell des Zusammenseins, aus dem spätere, viel komplexere Gesellschafts- und Länderkonstellationen hervorgingen. 

Für einen Europäer gilt wohl die griechische Polis während ihrer Blütezeit als idyllische Nachbarschaft. Immerhin ist das Erbe der alten Zivilisation aus unserem Denken nicht zu tilgen, das ist auch gar nicht nötig. Anders als oft angenommen, beruht die Polis nicht nur auf der politischen Idee, wofür die Griechen als Erfinder der Demokratie für alle Zeiten in die Geschichtsbücher eingegangen sind. Die Polis bedeutet auch Haushalten mit gleichem Status und annähernd gleichwertigem Besitz, die zu einem gemeinsamen System koordiniert werden, dessen weiteres Ziel nicht das Privatleben des Einzelnen, sondern das gemeinsame Leben aller ist, welches sich symbolisch in der Agora abspielt. Es geht hier nicht darum, den Vorrang der Wirtschaft vor der Politik zu beweisen; dieser Gedanke ist in der heutigen Zeit auch ohne zusätzliche Hilfe allzu sehr präsent. Viel mehr wichtiger ist es zu sehen, dass man in der Polis, auch wenn man seinen Nachbarn privat nicht mag – sei es, weil er Sklaven anders behandelt, oder weil er mit seiner Frau anders spricht –, ihn dennoch als öffentliche Person, als Bürger, respektieren muss. 

Natürlich wäre es komisch zu leugnen, dass gerade die gleichberechtigte Beziehung zwischen Mitgliedern der Gemeinschaft, die in aller Öffentlichkeit verwirklicht wird, das Wichtigste sei, was uns aus der Antike erreicht hat (das auf der Sklavenarbeit basierende Wirtschaftsmodell wurde, auch wenn es in der späteren Geschichte Anklänge fand, nicht über die Grenzen der Antike hinaus „exportiert“, weder zeitlich noch räumlich). Dennoch wäre das Öffentliche und das Politische praktisch nicht umsetzbar ohne die wirtschaftliche Grundlage der Haushalte. Für die Griechen war die Erfahrung der wirtschaftlichen und staatsbürgerlichen Nachbarschaft vorrangig und interessanterweise ziemlich friedlich. 

Bei näherer Betrachtung kann die griechische Polis jedoch nur zum Teil als Nachbarschaft bezeichnet werden. Nachbarschaft setzt immerhin eine Art Grenze voraus, zwischen dem Einen und dem Anderen, zwischen mir und dir, allerdings gibt es diese Grenze in der Polis nicht – alle sind gleich und gleichermaßen Bürger. Am einfachsten ist es, sich eine solche Grenze als einen Zaun vorzustellen, der mein Grundstück von dem des Nachbarn trennt, durch den wir aber trotzdem miteinander reden oder das Haus des anderen sehen können. Gewiss muss diese Metapher im zeitgenössischen (litauischen) Kontext ein wenig eingeschränkt werden, vor allem angesichts dessen, dass private Grundstücke gerne so umzäunt werden, dass man weder den Nachbarn noch den heiteren Himmel sehen kann. Außerdem sind die meisten Menschen in größeren Städten durch die Platten des Plattenbaus von ihren Nachbarn getrennt, und wenn sie sich in einem Treppenhaus oder Aufzug begegnen müssen, schweigen sie sich aus. Doch die metaphorische Diskrepanz zwischen dem Einen und dem Anderen ist von entscheidender Bedeutung, auf die kommen wir später zurück – im Moment muss man einfach gestehen, dass das Beispiel der Polis als Nachbarschaft, so unvollkommen es auch sein mag, in unserer Vorstellung fest verankert zu sein scheint, und dass sich daraus etwas Wichtiges ableiten lässt. Die größte Angst hatten die alten Griechen nicht vor dem Tod oder vor dem Gefängnis, sondern vor der Ächtung für das Vergehen oder vor dem Ausschluss aus der Gemeinschaft. Diese Angst, die Nachbarschaft verlassen zu müssen und öffentliches Gesicht zu verlieren, das per definitionem respektiert und wahrgenommen wurde – schließlich ist die Staatsbürgerschaft auch eine Art Verweis auf das Verständnis des Anderen, welches die Beziehung zwischen Bürgern erleichtert oder normalisiert, aber auch die Beziehung zwischen Bürger und Nicht-Bürger verkompliziert – besteht auch darin, dass ich ohne meine Mitmenschen, welche auch immer sie sein mögen, nicht gesehen und wahrgenommen werden kann, geschweige denn, dass ich verstanden werde. 

Die Frage ist nur, ob die moderne, nicht-griechische Welt ohne Poleis grundlegend anders ist. Heute haben der Sklave und der Herr trotz ihrer wirtschaftlichen Diskrepanz beide einen Pass, aber die Auffassung, dass man ohne Staatsbürgerschaft nicht mehr wirklich ein Mensch ist, hat nicht an der Resonanz verloren, nachdem die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte unterzeichnet worden war, welche Menschenrechte, unter dem Begriff Würde zusammengefasst, von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe abkoppelt, mit anderen Worten deren Universalität und Allgemeingültigkeit proklamiert. Darauf weist Hannah Arendt hin, wenn sie von entwurzelten Menschen spricht. Vor allem sind damit Kriegsflüchtlinge gemeint, die nicht wegen ihres Willens und nicht durch ihr Anstreben in ein anderes Land verschlagen sind und keine Erkennungszeichen vorweisen können: Sie werden weder als Dazugehörige noch als Menschen im Allgemeinen identifiziert, sie werden andersartigen bürokratischen Verfahren unterworfen, ihnen wird öfters Zugang zu bestimmten Sozialleistungen verweigert. 

An dieser Stelle sollte man sich lieber nicht auf eine breitere, wenn auch interessante Diskussion über die Beziehung zwischen Migranten und Nationalstaaten einlassen. Dieses Thema ist komplex, es entblößt die problematische Überschneidung der Paradigmen des Liberalismus, des Realismus und des Konstruktivismus, kann aber wenig über die Identität der Migranten selbst aussagen, über ihre Wurzeln und Nachbarschaften, die sie zurücklassen mussten. Arendt scheint Recht zu haben, sie blickt über ideologische Differenzen hinaus: Wenn wir unterwegs sind, verändern wir uns, weil die Welt um uns herum anders ist. Nicht unbedingt schlechter, aber anders. Denn Entwurzeln bedeutet in diesem Zusammenhang nicht den Verlust ethnischer Traditionen oder des kulturellen Erbes, schließlich kann man seine Muttersprache auch auf der anderen Seite des Atlantiks sprechen, genauso gut kann man nationales Brauchtum pflegen, vorausgesetzt natürlich, dies ist nicht gesetzlich verboten, was bei europäischen oder europäisierten Minderheiten selten der Fall ist. Der Punkt ist, dass man entwurzelt, ohne ein Netzwerk von gegenseitigen Identifikationen und bestimmten sozialen Befindlichkeiten, nicht in der Lage ist, zu erkennen und erkannt zu werden, und folglich auch nicht als Mensch anerkannt zu werden. Die Religion ist bereits jahrhundertelang nicht mehr ein verbindender Faktor: Ein Christ aus einem Ort wird nicht unbedingt von einem Christen aus einem anderen Ort akzeptiert, und die Chancen dazu verringern sich angesichts der weltweiten Vielfalt der Religionen und Glaubensrichtungen. Kurzum, verliert man seine Nachbarschaft, büßt man ebenfalls einen Teil seiner Menschlichkeit ein, auch wenn man diese untröstliche Schlussfolgerung intuitiv ablehnen möchte. 

Damit diese Perspektive milder ausfällt, holen wir den (ironisch) tiefgläubigen deutschen Denker Robert Spaemann dazu, der versucht hat, den Menschen als solchen wieder in die Politik und die Moral einzubringen, und über Daseins-Facetten eines Individuums sowie die darauf basierenden sozialen Gewebe nachzudenken. Er lässt die lateinische Idee des ordo amoris, der Ordnung der Liebe, wieder aufleben. Wir lieben nicht alle Menschen auf die gleiche Weise – mit der gleichen Liebe, mit der gleichen Intensität, mit dem gleichen Gepräge. Offensichtlich gibt es neben der sexuellen auch die spirituelle Liebe – Spaemann vergisst nicht, dass ein Mensch aus Körper und Seele besteht –, aber die Liebe kann auch freundschaftlich, politisch und nachbarschaftlich sein. Etwas vereinfacht kann Ordo Amoris als eine Art Liebeskreis verstanden werden, in dessen Mittelpunkt die Person steht, die wir lieben, unser Lebenspartner oder unsere Lebenspartnerin. Etwas weiter vom Zentrum entfernt finden sich innerhalb des Ordo-Amoris-Kreises Familie, Freunde, Gemeinschaft, Nation und Menschheit. Es würde sich seltsam anhören, dass wir unsere Mitmenschen genauso lieben wie Familienmitglieder, aber wir lieben sie trotzdem, lediglich weniger intensiv. Spaemann bietet uns ein Spektrum an, auf dessen einer Seite die wahre Liebe steht, die geistige und sexuelle, und auf der anderen Seite ein Sinn für Gerechtigkeit, der für jeden Menschen gilt. Wir kennen die Fremden nicht, aber per politischer Definition wünschen wir eine gewisse Gerechtigkeit für sie (wir können womöglich selber in eine ähnliche Situation geraten; hier offenbart sich eine starke Ähnlichkeit mit Rawls‘ Idee des hypothetischen Schleiers der Unwissenheit als einer Art Ausgangspunkt für Politik). Wir müssen nicht unbedingt selbst für eine solche Gerechtigkeit kämpfen, würden aber zumindest für sie plädieren. 

Eine derartige „Politisierung“ bedeutet selbstverständlich eine gewisse Überschreitung der ursprünglichen Idee des Philosophen, seines Verständnisses von Person und ihrer Offenlegung. Gerade das Phänomen der Nachbarschaft hilft dabei, dies zu vermeiden. Denn die Nachbarschaft bewahrt und sichert die Bedeutung des Einzelnen und seine Bindung zur Umwelt. Aus innenpolitischer Sicht wird dadurch die Liebe wohl weniger intensiv ausgedrückt als in einer Familie, aber doch intensiver als in einer Gesellschaft; im außenpolitischen Zusammenhang wiegt die Nachbarschaft weniger als eine Nation, aber mehr als eine Region oder eine ganze Welt. Anscheinend gerade darin kann sich das Individuelle und das Kollektive eines Menschen vergegenwärtigen: Wir sind zwar individuelle Wesen, aber ohne unsere unmittelbare Umgebung nicht denkbar. Zweifellos lässt sich behaupten, dass bestimmte Eigenschaften zu uns als Individuen gehören, zum Beispiel, dass jemand ein guter, ehrlicher, bewundernswerter Mensch ist. Aber diese Begriffe werden doch von unserer Umwelt auf die eine oder andere Weise mit Inhalt gefüllt, denn was in einer Gemeinschaft gut und schön ist, wird in einer anderen vielleicht anders heißen. An dieser Stelle möchte ich mich gar nicht mit der moralischen Relativierung beschäftigen; eine solche Debatte wäre für diesen Text sicherlich zu komplex. Es geht vielmehr darum, dass wir als Individuen in einer bestimmten Umgebung angesiedelt sind, die es einem ermöglicht, die eigene Persönlichkeit zum Ausdruck zu bringen, laut der bereits zitierten Arendt: Nur im Gespräch mit einem anderen kann ich verstehen, wer ich wirklich bin. Auf dem Hintergrund dieses Arguments erscheint sehr ernst auch die kaum zu leugnende Macht einer Gemeinschaft, Bedeutungen und Normen zu schaffen. Der moderne Mensch, so allmächtig er auch zu sein scheint, handelt nicht nur individuell, sondern wird bereits in ein System von Bedeutungen hineingeboren, welches er hinterfragen kann (und muss), aber auch weitgehend als gegeben beansprucht. 

Nein, damit wird keinesfalls der Vorrang des Kollektivs vor dem Individuum verteidigt. Das Besondere an der Nachbarschaft ist, dass sie vor allem Menschlichkeit einem Individuum verleiht, so traurig das auch klingen mag (zugegebenermaßen ist das Projekt der universellen und allgemeinen Menschenrechte und der Menschenwürde (noch) nicht erfolgreich verwirklicht worden), und zweitens das fragile, aber lebenswichtige Gleichgewicht zwischen dem Einen und den Vielen aufrechterhält. Sie fungiert nicht als eine Brücke oder ein Zwischenglied, sondern als das natürlichste soziale Umfeld des Menschen (betrachten wir die Familie so wie Rousseau: eher als natur- als sozialbezogene Realität), mit ihrem eigenen Konflikt- und Problempotenzial. Es wäre unfair, die Konflikte zwischen Nachbarn zu verschweigen, das kann ein Streit zwischen Landwirten sein darüber, wo genau der Zaun hingehört, oder Meinungsverschiedenheiten zwischen zwei Nachbargemeinden, oder aber eine Kriegserklärung dem Nachbarland. Hätten wir uns mit ihnen tatsächlich eingelebt und eine gemeinsame Sprache gesprochen, gäbe es keine Streitigkeiten oder täten diese nicht so weh.

An dieser Stelle sollte aber auch die Grenze nicht vergessen werden, die beim Phänomen der Nachbarschaft nicht zu tilgen ist. Es gibt eine Grenze auch bei der menschlichen Kommunikation und bei der Fähigkeit, einander zu verstehen und mitzufühlen. Ich möchte noch einmal auf Spaemann zurückkommen, der zwar nicht direkt auf diese Frage eingeht, aber eine interessante Perspektive zur Beantwortung bietet. Bei der Erörterung der Problematik der persönlichen Offenlegung behauptet er, dass die Wirklichkeit weder objektiv gegeben noch subjektiv konstruiert ist. Außerdem können persönliche Erfahrungen nicht weitergegeben oder erklärt werden. Ein anschauliches Beispiel dafür: Ich kann zwar begreifen, dass einem mir nahstehenden Menschen etwas weh tut, aber ich kann diesen Schmerz nicht fühlen und nicht wahrnehmen, weil ich ihn nicht erlebe; würde ich aber einen gleichen (in Bezug auf das Ausmaß) Schmerz erleben, wäre dieser dennoch anders, weil es sich ja um meinen Schmerz handeln würde. Genauso wenig überzeugend erweist sich das, was oft als objektiv dargestellt wird: Wenn ich vor Schmerzen kaum noch gehen kann, der Arzt aber dies mit seinen Geräten nicht „sieht“, werde ich wohl kaum zu dem Schluss kommen: „Vielleicht habe ich nun doch keine Schmerzen?“ Da bestimmte Erfahrungen und Bedeutungen nur ein bestimmtes Individuum besitzt, können auch Gemeinschaften etwas besitzen, was andere nicht kennen und verstehen. Egal, wie nah ich meinem Nachbarn bin, ich bin nicht er, der metaphorische Zaun bleibt nach wie vor stehen. Gemeinsame Erfahrungen bringen uns sicherlich näher, sie können uns aber nicht gleichsetzen. 

Angesichts der nach Europa zurückgebrachten Gräueltaten des vom Kreml in den letzten Monaten angezettelten konventionellen Krieges ist häufig zu beobachten, dass die Litauer den Ukrainern als ihren Brüdern, Schwestern und Nachbarn helfen, weil sie selbst wissen und die Erfahrung beinahe vererbt haben, wie es ist, von einem Nachbarn aus dem Osten angegriffen zu werden. Zweifellos ist litauische kollektive Erinnerung an die sowjetischen (russischen?) Verbrechen im Gegensatz zu vielen westlichen Ländern unmittelbar und daher besonders frisch und unvergänglich. Dennoch können wir uns nicht vorstellen, weil dies gar nicht geht, was die Ukraine und ihre Menschen derzeit durchmachen; wir sind zwar Schicksalsgenossen und Nachbarn auf diesem Kontinent, aber ihren Schmerz können wir doch nicht vollständig teilen. Wir haben einen anderen Schmerz, unseren eigenen, aber nicht denselben.

Auf diese Weise – und auch darüber hinaus – kommen die in der Nachbarschaft kodierten Einschränkungen zum Vorschein. Nah und fern zugleich, sind die Nachbarn durch einen Zaun getrennt, dass kann ein Erfahrungs-, Ethik- oder Holzzaun sein. Die Nachbarschaft bleibt jedoch eine einzigartige Ebene, die immer noch in der Lage ist, den Einzelnen und die Mehrheit, das Individuum und die Gemeinschaft, den Menschen und seine Umgebung zu verbinden. Wahrscheinlich, weil sie so deterministisch ist und weil wir unsere Nachbarn nicht aussuchen können, aber auch wegen des bereits erwähnten Zauns, da dieses komplexe Phänomen sowohl identitätsstiftend ist als auch dazu führen kann, dass wir den anderen nicht mehr als Person sehen, sobald dieser Zaun einer Trennung zwischen „uns“ und „ihnen“ dient. Es wäre doch besser, den Zaun zu bemalen, jede Seite auf ihre Art, ob mit Kraftausdrücken oder mit bunten Sonnenblumen.