Kulturlandschaft  – der Gipfel

In der ursprünglichen Bedeutung ist der Gipfel die Spitze eines Berges. Es ist ein Wort, das in der deutschen Landschaftspoesie sehr verbreitet und beliebt war. Einen Gipfel zu besteigen, war immer etwas Erstrebenswertes. Von daher passt der Ausdruck auch genau in das Thema der Kulturlandschaften und wir können uns fragen, inwiefern Gipfel für unsere Kulturlandschaft relevant sind, inwiefern Gipfel und Höhenzüge diese Kulturlandschaften auch prägen können – sowohl im tatsächlichen als auch im übertragenen Sinn.

(Gehen wir von Kulturlandschaft über zur Literaturlandschaft, stoßen wir in diesem Jahr unweigerlich auf das hundertjährige Jubiläum des Thomas Mannschen Zauberbergs, was uns zu Überlegungen hinreißen könnte, inwiefern die Einbeziehung des Bildes in die Kulturlandschaften auch deren Hierarchisierung implizieren kann? Schaut die ernste Literatur von oben herab? Dürfen wir, um im Tonfall des „Zauberbergs“ zu bleiben, „von uns oben“ sprechen und auf das „Flachland“ herabschauen?) 

Unser Mottowort weist noch weitere Nuancen auf und lässt sich im übertragenen Sinne gebrauchen. Lesen wir Texte und insbesondere Briefe von Thomas Mann, fällt uns rasch auf, dass er das Wort Gipfel im übertragenen Sinn anscheinend mochte und es sehr häufig nutzte. Überliefert ist z.B. seine Aussage, dass die Wagnersche Ouvertüre des „Lohengrin“ den „Gipfel der Romantik“ darstelle. Im Doktor Faustus spricht er davon, dass die Theologie » der Gipfel wissenschaftlicher Würde, die höchste und vornehmste Sphäre der Erkenntnis, die Spitze des Denkens « sei.  Doch darüber hinaus benutzte er den bildlichen Vergleich auch für andere Schilderungen. So schwärmte der Schriftsteller in einem Brief an Agnes Meyer über ein Dinner im Weißen Haus an der Seite Eleanor Roosevelts, dies sei der »schwindelnde Gipfel« seiner neuerlichen Begegnung mit Franklin D. Roosevelt gewesen. Subsummieren wir diese Aussagen, stellen wir fest, dass bei Mann stets ein Funken Emotion mit dem Gebrauch des „Gipfels“ verbunden war. 

Lösen wir uns etwas von der Silhouette unseres Namenspatrons, können wir auf andere Errungenschaften in geistigen Höhen blicken (z.B. unseren Blick auf Immanuel Kant und sein Jubiläum richten, über dessen Werk es heißt, es stelle den Gipfel der Aufklärung dar) oder weiter das Bild unseres Mottowortes verfolgen, über Gipfeltreffen nachdenken bzw. bedenken, dass der Volksmund sagt, »Je höher der Gipfel, desto dünner die Luft«.

Wer einen Gipfel besteigt, kann seinen Blick von oben wandern lassen und erfährt neue Blickwinkel. Wer das Thomas-Mann-Haus besucht, muss wenigstens einen kleinen Hügel hinauf. Oben auf der Terrasse lassen sich dann ebenfalls neue Perspektiven erörtern. Auch der abendliche Konzertbesuch während des Festivals erfordert das Beschreiten einer kleinen Anhöhe. 

Wir wünschen allen Besucherinnen und Besuchern des Thomas-Mann-Festivals viele Eindrücke, Ausblicke und spannenden Austausch der gewonnenen Perspektiven. 

Prof. Ruth Leiserowitz
Kuratorin des Thomas-Mann-Kulturzentrums