
Das Thomas-Mann-Kulturzentrum wählt für seine wichtigste Veranstaltung – das Thomas-Mann-Festival – Themen aus, die universelle, sensible Fragen der Gegenwart widerspiegeln sollen. Diese Themen dienen als Inspirationsquelle und Leitmotiv für das Musik-, Wort-, Kunst- und Filmprogramm des Festivals. Seit einiger Zeit legt das Kuratorium des Zentrums ein grundlegendes, über mehrere Jahre hinweg geltendes Thema fest, das durch die jeweiligen Jahresthemen ergänzt und entfaltet wird. Das letzte große, vierjährige Leitthema lautete „Kulturlandschaften“.
Für die kommenden Jahre hat das Kuratorium im Jahr 2024 ein Zitat aus Shakespeares „Hamlet“ als zentrales Thema des Festivals gewählt. In seiner Beschreibung einer von Übeln durchdrungenen Welt sagt der Prinz von Dänemark: „Die Zeit ist aus den Fugen.“ Diese Formulierung spiegelt ein weit verbreitetes Gefühl unserer Gegenwart wider: jenes, inmitten einer tiefgreifenden Krise zu leben – eines radikalen und unvorhersehbaren Wandels, der das vermeintlich Feste, allgemein Anerkannte und Verlässliche untergräbt und infrage stellt. In solchen Zeiten stehen Menschen mächtigen, unkontrollierbaren, ja mitunter unfassbaren Kräften gegenüber, die persönliche Entscheidungen notwendig machen, da gesellschaftliche Normen und Werte ihre verbindliche Kraft verlieren. Solche Krisen begleiten die Menschheitsgeschichte seit Anbeginn. In allen Kulturen lassen sich Erfahrungen des Umgangs mit bedrohlichen, oft tragischen Umbrüchen finden.
Die klassische europäische Kultur hat die Menschlichkeit und die persönliche Haltung, die den Wert des Menschen bejaht und repräsentiert, zu ihren höchsten Tugenden erhoben. In Platons „Staat“ werden vier Kardinaltugenden benannt: Weisheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Maß. Das Christentum hat diese antiken Tugenden um drei weitere ergänzt, die als die „großen Tugenden“ gelten: Glaube, Hoffnung und Liebe – wobei alle Tugenden im Glauben wurzeln und von der Liebe gekrönt werden. Diese Tugenden hat das Kuratorium als Unterthemen für die kommenden drei Thomas-Mann-Festivals ausgewählt. Das diesjährige Festival 2025 steht also unter dem Zeichen des Glaubens.
Glaube wird häufig mit Religion assoziiert. Doch auch außerhalb religiöser Vorstellungen kann er – weniger als Tugend, sondern eher als psychologische oder emotionale Haltung – verstanden werden, die unter Umständen zur Überlebensstrategie wird. Glaube lässt sich als Vertrauen, Zuversicht oder auch als einen inneren, schwer fassbaren Instinkt begreifen, auf den sich der Mensch stützt, um existentielle Entscheidungen angesichts einer ungewissen, bedrohlichen oder aussichtslos erscheinenden Zukunft zu treffen. In diesem Sinne ist der Glaube ein vielschichtiges, bedeutendes Thema der Kultur. Das dem Glauben gewidmete Programm des diesjährigen Festivals soll den Teilnehmenden ermöglichen, in Verbindung mit Künstlerinnen und Künstlern sowie Kulturschaffenden menschliche Solidarität zu empfinden und sich jenen verbunden zu fühlen, die eine „aus den Fugen geratene Zeit“ erlebt haben oder erleben. Es lädt dazu ein, den Glauben im Innersten zu entdecken.
Dr. Irena Vaišvilaitė