
Simona Bizunovičiūtė, Studentin der französischen Philologie an der Universität Vilnius. Gewinnerin des Wettbewerbs des Internationalen Thomas-Mann-Festivals
Seit geraumer Zeit träume ich von uns und unserem Zuhause. Dieses heilige Wort verwende ich nun für eine Wohnung, die sich nicht in Vilnius befindet. Seit einiger Zeit atme ich die Luft der Seine ein, spüre die Brise des Ärmelkanals und das feuchte Holz der mittelalterlichen Gebäude. Ich spreche eine fremde Sprache. Sie hat sich bereits ausreichend in mir verankert, so dass ich ihre Nuancen fast so deutlich wahrnehme wie die meiner Muttersprache. Im Ausland leben, ein Gast sein, an einem Ort, an dem niemand auf einen wartet. Anpassen, sich einfügen. An den Ort zurückkehren, der einst mein Zuhause war, und versehentlich die falsche Sprache sprechen: in ein Geschäft gehen und lächelnd „bonjour“ sagen.
Ich kehre dorthin zurück, wo einst mein Zuhause war, aber ich weiß nicht wann. Ich weiß, dass ich wieder abreisen werde, aber ich kann nicht sagen wann. Und ich weiß immer noch nicht, wo mein Zuhause ist. Vielleicht finde ich es nie. Vielleicht werde ich ewig umherwandern und einen Platz an der Sonne suchen. Da ich in Vilnius aufgewachsen bin, kenne ich jeden Winkel der Stadt, in der mich viele vertraute Gesichter wie Schatten aus der Vergangenheit anlächeln. Ich würde mich nie von dieser Stadt lossagen, aber etwas hat sich verändert. Ich gehöre dort nicht mehr dazu. Ich war in dem fremden Land nicht dazugehörig und gehöre nicht mehr zu meinem Heimatland. Ein Zustand des Dazwischenseins, ein Limbo. Ich muss mich entscheiden, aber ich warte noch – vielleicht weht mich der Wind des Schicksals von selbst zum richtigen Ort…
Es scheint, als wäre es nicht schwierig, ein Fremder zu sein, wenn man die Landessprache spricht – man beherrscht das Werkzeug der Kommunikation, was könnte noch fehlen? Doch das Zeichen des Fremdseins, gleich einem Kainsmal, leuchtet überall, wo man hingeht. Menschen wechseln abrupt ins Englische, sobald sie den Anklang eines Akzents hören, oder sie erstarren vor Entsetzen und meiden jeglichen engeren Kontakt. Für die Einheimischen bin ich ein ahnungsloser Tourist, und es spielt keine Rolle, dass ich die Stadt vielleicht viel besser kenne als sie. Das Zeichen des Fremdseins würde einen selbst bis ins Grab begleiten. Man könnte meinen, es wäre einfach, unter solchen Umständen nach Hause zurückzukehren, doch es ist schwierig, sein neues Leben, seine Gewohnheiten und seine neuen Freundschaften zurückzulassen. Es ist erst ein Jahr her und einige Menschen zu Hause haben meine Abreise noch nicht einmal bemerkt. So kurz scheint sie zu sein, als ob ich nach einer kurzen Abwesenheit sofort zurückgekehrt wäre. Ihre Zeit ist ja im gleichen Fluss verlaufen wie meine. Aber jetzt, ein Jahr später, komme ich zurück und stelle fest, dass ich viel mehr als nur ein Jahr gealtert bin, dass der Lauf der Zeit andere Windungen in mein Gehirn gegraben hat und ich nun in vertraute Gesichter blicke, doch nur ferne Echos der Vergangenheit sehe. Ich erinnere mich und schätze diese Erinnerungen, doch ich lebe nicht mehr in derselben Zeit, wir sind verschiedene Wege gegangen. Als wäre ich ins All gereist und bei meiner Rückkehr fand ich die Erde vor, wie ich sie verlassen hatte, als hätte die Zeit auf der Erde stillgestanden, während meine Zeit raste. Dann bleibt einem nichts anderes übrig, als sich an die Verluste und Entdeckungen zu gewöhnen und diese unglückliche Relativität der Zeit zu akzeptieren.
Am Flughafen sprach mich eine marokkanische Frau an, die auf ihren Heimflug wartete. Als sie hörte, dass ich ein Jahr in der Normandie verbracht hatte, lachte sie und sagte, dass die Pariser wenigstens an kulturelle Vielfalt gewöhnt seien. Ich war ein wenig verärgert, denn ich hatte mich bereits ein wenig in meine kleine Stadt im Norden verliebt. Vielleicht sind die Pariser tatsächlich mehr daran gewöhnt, aber ist ein Neuankömmling aus Litauen an den Trubel einer Millionenstadt gewöhnt? Und kann sich ein Fremder in dieser Stadt wirklich zu Hause fühlen? Die Frau erzählte, sie habe in Paris gelebt, aber sie wohnte hinter dem Bois de Boulogne… Die unterschiedlichen Kulturgruppen leben in verschiedenen Teilen der Stadt, sie leben nebeneinander, doch es gibt unüberwindbare Barrieren, die ein endgültiges Vermischen verhindern, und der Grad der Assimilation, so hoch er auch sein mag, erreicht niemals seinen Endpunkt. Selbst in meinem kleinen Rouen gibt es eine scharfe Trennung nach sozioökonomischem Standard: Die rechte Seite des Flusses ist der zentrale Teil der Stadt, wo das gesamte kulturelle Leben stattfindet – ich musste nur die Treppe hinuntergehen und schon war ich mitten im pulsierenden Leben der Stadt. Wenn man jedoch den Fluss überquerte und auf die linke Seite gelangte, stieß man auf eine andere Realität: Obwohl sich dieser Teil der Stadt viel weiter als die rechte Seite erstreckt, ist er nicht der Ort, an dem die Einwohner ihre Freizeit verbringen wollen. Sie kehren dorthin zurück, um zu schlafen, und viele haben nicht den Mut, zu den dunklen Stunden des Tages auf diese Seite zu gehen.
Für Neuankömmlinge im Ausland beschränken sich die Bekanntschaften oft auf andere Menschen, die das gleiche Schicksal teilen und ähnliche Erfahrungen machen. Wenn man Glück hat, knüpft man Kontakte zu Einheimischen. Dieses Phänomen bedarf keiner langen Erklärung: Die Außenseiter schließen sich zusammen, um sich als Teil einer Gemeinschaft zu fühlen. Solche Gespräche prägten meinen letzten Abend in einem Land, das mir fremd und doch irgendwie vertraut war. Im Ausland war ich nie eine Persona non grata, ich wurde nie übermäßig herzlich empfangen, doch ein gewisses Gefühl des Andersseins war immer präsent. Jeder Kommentar zu meinem „sehr guten Französisch“ erinnerte mich daran, dass mein „gutes Französisch“ niemals als selbstverständlich betrachtet werden würde, dass Fragen zu meinem Heimatland niemals aufhören würden und dass sie, obwohl sie oft eine bittersüße Nostalgie hervorriefen, eine ständige Erinnerung daran waren, dass ich hier nicht hingehöre. „Wann planst du zurückzukehren?“ – diese Frage fühlte sich wie ein verhängtes Urteil an.
Die Dualität ist ein ständiger Begleiter im Ausland: Einerseits werde ich in der akademischen Welt nach den Standards der Einheimischen beurteilt, andererseits erlaubt mir die Anmerkung, dass ich „étrangère“ bin, zwei zusätzliche Grammatikfehler in meiner Dissertation. Das ist ein nettes Zugeständnis. Außerdem darf ich während der Prüfung ein Wörterbuch verwenden. Das Wort „étranger“ fasziniert mich immer wieder – es bedeutet sowohl „Fremder“ als auch „Ausland“, und wenn wir es durch ein Adjektiv ersetzen, können wir uns an einer Vielzahl von Bedeutungen erfreuen: ausländisch, anders, unbekannt, fern… Ich faltete die Ecke der Seite im Wörterbuch um, das ich aus der Bibliothek ausgeliehen hatte, und studierte sorgfältig das semantische Feld dieses Wortes. Das Buch gab ich zurück ins Regal, aber das Wort habe ich beibehalten und werde es noch lange in mir herumtragen, als Erinnerung, als einen inneren Ausweis, der überall gültig ist, aber nie von der Ausweiskontrolle gefordert wird.
Eines Abends besuchten einige Freunde und ich eine Bar, in der Bachata gespielt wurde. Wir landeten dort eigentlich nur deswegen, weil es die einzige Bar war, die am Sonntagabend geöffnet hatte. Die Atmosphäre war anders als in den Lokalen, die ich bisher besucht hatte. Die Barkeeperin erzählte uns, dass es jeden Abend ein anderes Thema gibt – dieser Abend war Lateinamerika gewidmet, gestern spielte man Sirtaki und morgen… Der Raum war klein und bot kaum Platz für drei tanzbegeisterte Bachata-apasionados. Mit einem von ihnen stellte ich fest, dass uns der Tanz verbindet, dass er eine Sprache ist, die jeder versteht – die Sprache, die die Griechen während der Bacchanalien sprachen und die auch wir heute sprechen. An ihre Namen werde ich mich nicht mehr erinnern, aber wir tanzten im selben Rhythmus. Solche Momente helfen uns, unsere Unterschiede zu vergessen, zu ursprünglichen Ausdrucksformen wie Gestik und Mimik zurückzukehren. Doch diese Form der Kommunikation genügt uns nicht mehr, denn wir haben uns unwiderruflich von einem Leben entfernt, in dem Handlungen genügen. Wir brauchen Worte, wir suchen Wissen, denn die Existenz des modernen Menschen beruht auf dem Verlangen, mehr zu haben und mehr zu wissen, anderen überlegen zu sein. Und so kann uns ein Tanz zu einer unbekannten Melodie nicht so sehr näher bringen, wie es unsere postmoderne Verfassung erfordert.
Die Sprache als Kommunikationsmittel verblüfft oft durch ihre Unzulänglichkeit, sich selbst zu beschreiben, und durch die Unmöglichkeit, etwas von einer Sprache in eine andere zu übertragen, ohne dabei feinste Nuancen zu verlieren. Einmal veranstalteten wir ein Spiel, eine Art „Stille Post“, bei dem wir ein Gedicht von Baudelaire aus dem Französischen übersetzten, jeder in seine eigene Muttersprache. Dieses arme Gedicht durchlief eine Vielzahl von Veränderungen, und die Figur der Vampirin mutierte zu einem Monster oder Ungeheuer, allein um des rhythmischen Klangs willen. Dieses Ungeheuer entstellte die Gedanken des Autors, sog sein Leiden ein wie eine Zecke und infizierte die Verse mit seinem Gift, während es über seine vergeblichen Versuche, seine Gefühle zu artikulieren und in Worte zu fassen, spottete. Noch mit dem warmen Blut des Gedichts im Mund, starrte uns das Ungeheuer zwischen den Strophen herausfordernd an, als schaute es durch die Spalten der Jalousien, doch mir kam es vor, als blickte ich in einen Spiegel. In jener Nacht träumte ich davon, die Leiche meiner eigenen Gedanken zu entweihen, indem ich sie in Worte kleidete, in die Laute einer fremden Sprache, deren Feinheiten ich nur zum Teil verstehe. Vor dem Einschlafen sehe ich wieder die beiden frechen Augen, die mich durch das Fenster meines Zimmers anstarren. Und dann hallt Borges‘ Frage „Bist du, Leser, sicher, dass du meine Sprache verstehst?“ in meinem Kopf nach, wie tausend Orgelpfeifen. Von Schlaflosigkeit geplagt, schweige ich immer öfter, ziehe mich zurück und entziehe mich der Verpflichtung, etwas sagen zu müssen.
So oft wir auch auf die Unübersetzbarkeit von einer Sprache in eine andere stoßen, vergessen wir häufig die Unübersetzbarkeit innerhalb derselben Sprache. Jeder Mensch hat ein eigenes Sprachgefühl, was zu Missverständnissen, Fehlkommunikation und sogar Streitigkeiten führen kann. Ein Freund erzählte mir einmal, dass das Wort „zumal“ für ihn eine negative Konnotation hat, konnte jedoch nicht erklären warum. Seitdem versuche ich, dieses merkwürdig kalte Wort zu meiden – wer weiß, vielleicht habe ich mich einfach an seine ausstrahlende Kälte gewöhnt? Oder wurde mein Freund vielleicht einmal mit einer schrecklichen Diagnose konfrontiert: „Bitte kommen Sie so schnell wie möglich ins Krankenhaus, Ihr Vater benötigt einen Fahrer, zumal es nach der Chemotherapie zu verschiedenen Nebenwirkungen kommen kann…“. Nun verfolgt ihn dieses unheilvolle „zumal“ in seinem Alltag und erinnert ihn ständig an jenen Teil des zusammengesetzten Satzes, der seine schreckliche Erfahrung zu besiegeln schien. Die Assoziationen, die wir tagtäglich nutzen, können selbst in derselben Muttersprache unübersetzbar sein. Es ist uns unmöglich, in das Unterbewusstsein einer anderen Person einzudringen und jede beiläufig an jedes Wort angeheftete zusätzliche Bedeutung zu untersuchen. Ein roter Kugelschreiber erinnert die meisten an die Schulbank oder an ein Verbot, während die Farbe Grün mit Erlaubnis assoziiert wird. Doch in Japan gab es früher blaue Ampeln statt grüner, und die Menschen nennen sie immer noch blau, obwohl sie grün sind. In diesem Fall ist die tatsächliche Farbe irrelevant, da sie natürlich eine Genehmigung zum Gehen oder Fahren signalisiert. Aber wäre die Situation auch ohne diese kontextualisierenden Informationen so klar? Persönlicher oder gemeinschaftlicher Sprachgebrauch und assoziative Erfahrungen können selbst unter den einfachsten Umständen ein Hindernis darstellen, selbst mit den umfassendsten Wörterbüchern, denn wenn wir sprechen, schaffen wir nicht nur eine gemeinsame Sprache, sondern auch eine Vielzahl kleinerer Sprachen für engere Sprecherkreise. Die Unfähigkeit der Menschen, den anderen „grundlegend“ zu verstehen, hält paradoxerweise die Sprache lebendig. Deshalb möchte ich ausrufen: „Es lebe die Unübersetzbarkeit!“
Wir sind sowohl durch Sprachen als auch durch die in ihnen enthaltenen kulturellen Codes voneinander getrennt. Wir sind sowohl durch Staatsgrenzen als auch durch unsere eigenen imaginären Barrieren separiert. Werte, Weltanschauungen, Lebensstile – all das formt bestimmte Gesellschaften, aber es gibt immer Außenseiter, die ihren Platz nicht finden, die am Rande feststecken, die nicht zu dieser Gesellschaft gehören, aber auch nicht in eine andere passen. Wir erkennen den anderen durch Ähnlichkeiten, aber wir unterscheiden ihn von uns (oder unserer Gemeinschaft) durch Kontraste. Der einzige Unterricht, der obligatorisch sein sollte, ist die Weltkunde. Nicht die Art Weltkunde, die in der Grundschule gelehrt wird, sondern die Art, die sich wirklich auf ein grundlegendes Verständnis der „anderen“ Welt konzentriert. Nicht eurozentrisch, neutral, wertfrei, ohne Notenbewertung und ohne den Anderen zu bewerten. Es soll einfach über Menschen, Zivilisationen, verschiedene Gemeinschaften und ihre Mentalitäten, Philosophien und Religionen berichtet werden. Ein Fremder ist nicht nur jemand, dem Unrecht getan wird oder der ignoriert wird, ein Fremder ist auch jemand, der geliebt oder respektiert wird, ein Fremder ist jeder, der von mir (oder meiner Gemeinschaft) getrennt ist, jeder, dessen Bewusstsein und Unterbewusstsein nicht im gleichen Rhythmus wie meines tanzen.
Wir alle sind Fremde, wir alle sind unfähig, das auszusprechen, was wir wirklich sagen wollen, unser aller Leben wird von unzuverlässigen Kommunikationswerkzeugen bestimmt, die jeder, selbst der faulste, schamlos abändert und nach seinen eigenen inneren oder äußeren Impulsen verformt. In dieser Welt dazuzugehören bedeutet also auch, ein Fremder zu sein, und durch unsere Fremdheit schaffen wir eine Gemeinschaft von Außenseitern, in der wir uns als zugehörig fühlen können. Sich selbst zu verstehen und den anderen zu verstehen, bedeutet, sich zu einer ewigen Suche nach dieser mythischen Gemeinsamkeit zu verdammen und den Status eines Nomaden zu akzeptieren. Letztendlich ist das Anderssein vermutlich das Einzige, was wir wirklich gemeinsam haben. Jetzt habe ich nicht mehr so viel Angst davor, zurückzukehren (oder vielleicht weiterzureisen), denn es ist nur mein Körper, der an einen Ort gebunden ist, und ich bin schon lange umgezogen, in mich selbst, um überall zu leben. Der einzige Ausweg besteht also darin, die Fremdheit wie ein wärmendes Gewand anzulegen, das uns vor den Winden der Andersartigkeit schützt, und weiterzuschreiten.
Aus dem Litauischen von Jūratė Žukauskaitė
Partner des Wettbewerbs des Thomas-Mann-Festivals:
Goethe-Institut Litauen