
Kristina Alsytė
Belladonna
Studentin der Semiotik (MA) an der Universität Vilnius
Griselda hockte auf dem Balkongeländer, als der wolkenverhangene Junihimmel aufbrach. Die Tropfen prasselten auf diese hässlichen Plastikkrähen, die geduldig mit den Stadttauben kämpften. Sie verschmolzen miteinander und versuchten immer wieder, diese schwere Fülle zu bewahren, doch jedes Mal ohne Erfolg. Die Tropfen, die sich an Griseldas Schnabel festklammerten, gaben unweigerlich nach und fielen schmerzhaft auf den Stadtboden, wo sie Spritzer hinterließen. Der Friedhof der Pfützen breitete sich rasch aus, riss jede Barriere nieder und zerstörte jede Hoffnung. Es schien, als würde er die ganze Welt verdecken und ich würde nichts mehr sehen außer meinem Schicksal.
Er nannte mich Belladonna. Wenn er diesen Namen aussprach, sah ich mein Spiegelbild in seinen weit aufgerissenen Augen und fragte mich, warum die Mutter, die Ärztin war, ihren Sohn nicht gewarnt hatte, dass Tollkirschen tödlich giftig sind. Er steckte sich die schwarz glänzende Beere in den Mund und kaute sie ohne mit der Wimper zu zucken. Der süße Saft lief ihm über den Gaumen, und seine Augen füllten sich mit Tränen. Er hatte das Gefühl, in einer anderen Zeit zu sein, in einen anderen Raum eingetreten zu sein. Er sah das Tal von Issa vor sich. Er fieberte und hörte in seinen Ohren nur den prasselnden Regen, der rhythmisch das Thema von Yumeji wiederholte, das aus der Lautsprecherbox im Zimmer dröhnte, und er begann, zu zappeln. Er klebte an der Wand und konnte nicht einmal seinen Namen aussprechen, ballte die Hände wie ein Kind, das wütend ist, weil es zu klein ist, um seine Mutter vor den Fäusten seines Vaters zu schützen. Damals war ich mir noch nicht sicher, ob er ein Apostel oder ein Verräter war, also nannte ich ihn einfach Judas.
Ich wollte, dass Judas jede Beere pflückt und verschlingt, bevor sie auf den feuchten Boden fällt und verfault. Ich wollte, dass das Gift, das seinen Körper durchströmt, so lange brodelt, bis es aus seinen Augen läuft und die Wurzeln der Tollkirsche verfaulen, selbst wenn es ihn selbst umbringen würde. Aber Judas kam für einen Moment zur Besinnung und ich erkannte, dass er sich wie sein Vater verhielt. Er erschrak und floh. Verloren, dachte ich. Ich hörte ihn in Liebesfesten herumtollen, ohne sich für seinen Schmutz zu schämen, und schwinden wie eine wasserlose Wolke, vom Wind getrieben wie ein unfruchtbarer Baum im Herbst, zweimal gestorben und ausgerissen wie eine tobende Meereswelle, die ihre Scham ausspuckt, wie ein wandernder Stern, dem für alle Ewigkeit die tiefste Finsternis bestimmt ist. Manchmal kam Judas zurück. Er erschien in Träumen, bevor wir uns am nächsten Tag auf der Straße begegneten. Er folgte mir mit seinem Blick und wartete darauf, dass ich „Hallo” sagte, worauf noch ein oder zwei Worte gefolgt wären. Die Stille war tödlich. Das Gift der Tollkirsche war tödlich. Vergeblich ist das Wort, das alles gut beschreibt. Einmal träumte ich, dass er gestorben war. Als wir uns am nächsten Tag auf der Straße nicht begegneten, war ich erleichtert. Für einen Moment, bis er mit dem Regen anklopfte.
Es regnete auf die aufgeschlagenen Seiten. Er sagte, ich sei aus dem 19. Jahrhundert. Ich bin mir nicht sicher, aus welcher Zeit ich stamme. Die Zeit verschwindet immer wieder. Sie löst sich wie ein Gelenk, wenn man die Hände hinter dem Rücken zusammenbindet und mit einem Seil an einem Birkenast aufhängt. Strappado. Diese Qualen bringen mich dazu, blutige Tränen zu weinen. Ich würde alles für Rattengift geben, denn alles, was ich sehe, ist ein Friedhof der Pfützen, der jeden Gedanken beherrscht und die ganze Welt verdeckt. Ich sehe nichts außer meinem Schicksal. Um das Seil zu durchtrennen, muss man großherzig sein. Judas hat mich hängen lassen. Seine eigenen Hände sind gefesselt. Wohin er auch geht, er ist nur ein kleiner Junge, erstarrt vor Angst, zitternd wie ein Espenblatt. Seine Scham wird seit dem ersten Bissen, seit der Vertreibung aus dem Paradies, verdeckt, aber wenn die Kleider herunterfallen, ist es beängstigend, gesehen zu werden. Dann kommt die Zeit, die in die Welt ruft, in die Ohnmacht, in die ewige Sehnsucht.
Die Einsamkeit regnet unaufhörlich. Der Himmel prophezeit nur Tod und Geburt, gekennzeichnet durch den Stempel der Vergessenheit. Öffne die Augen, auch wenn du mit offenen Augen träumst – es hört nie auf. Auf dem Kissenbezug der Witwe sind die Worte gestickt: „Diejenigen, die einander gesehen haben, werden sich wiedersehen.“ Ich sehe sein Spiegelbild in der Nekropole. Gelegentlich. Wenn der Winter kommt und die Pfützen zufrieren. Wenn die Dunkelheit der Nacht hereinbricht und sich ein Stern im geronnenen Blut spiegelt. Es ist nur ein Spiegelbild, und ich weiß nicht, ob er wirklich da ist. Ich weiß nichts, aber ich möchte glauben, dass wir uns in diesen seltenen Momenten berühren. In diesen seltenen blitzartigen Momenten, wenn die unbeweglichen Lippen sprechen, dass der vollkommenste Körper eine vollkommene Wunde sei.
Das ist meine Messe. Die Hysterie beginnt immer mit einer Frau. Einer Frau, die aus der Rippe eines schlafenden Mannes geschaffen wurde. Wach auf, wach auf, wach auf… Wach auf zum Tanz, denn der Tanz bringt das Licht. Im Tanz entsteht ein Wunder – im Tanz erwacht das Blut des Heiligen Januarius. Lasst uns tanzen, tanzen, tanzen… Lasst uns tanzen zum Anfang aller Anfänge, zum ersten Bissen, zum ersten Wort. Lasst uns tanzen von Griseldas Schnabel in die Wolken, die in den Pfützen baden, und lasst uns darin baden. Wir haben keine andere Wahl. Wir sind vom Tanz verflucht. Verflucht, uns wie eine Schlange zu häuten, verflucht, den Schwanz des Ouroboros zu verschlingen. Immer und immer wieder. Jedes Mal, wenn das Blut fließt, berauschend wie Wein. Wer hat euch nicht die tiefe Freude am Wein erfahren? Wer mitten am Tag zu trinken beginnt, ist am Abend betrunken. Wer schon vor dem Frühstück zu trinken beginnt, erreicht am Abend einen Zustand metaphysischer Nüchternheit. Wer gar nicht trinkt, kann niemals nüchtern werden. Trink mich, trink mich mit all meinem Gift bis zum letzten Tropfen, und dein Gesicht wird in überirdischem Licht erstrahlen. Heile mich, wie Hieronymus den Löwen geheilt hat. Hab keine Angst. Nicht der Tod wird uns zum Schweigen bringen, sondern das Wort. Hab keine Angst zu verletzen. Poesie wird mit Blut geschrieben.
- Vielleicht irgendwann einmal, sagte Judas, gibt es noch andere Gläser, die ich gerne probieren würde.
Probieren, probieren, probieren. Es klang wie tropfende Tropfen, die in eine Ritze im Boden fielen, dort, wo der ganze Osten der Welt Platz hat. Probieren und nie satt werden. La Rêveuse. Ein Hauch von Musikwunder. Die Viola da gamba lässt den Barock erklingen. Ich gleite in einer Voluten-Spirale hinunter, hinunter, hinunter. Barock ist keine Epoche, Barock ist ein Lebensstil. Töte mich. Töte mich mit deinen Worten, denn Schöpfung ist Tötung. Und ich werde dich töten. Ich werde dich auf seltsame, raffinierte Weise töten und dich mit Belladonna-Blüten schmücken. Du wirst niemals zu Staub werden. Niemals, niemals, niemals! Du wirst den Staub wegwaschen, während du als Blutstropfen vom Schnabel einer Krähe fällst, während du in die tiefe Dunkelheit fällst und selbst zur Dunkelheit wirst, in der die Sterne funkeln. Meine Messe ist eine Ode an die Freude, eine Ode an die erste Liebe, egal welche es war. Ich liebe immer wie beim ersten Mal – voll und ganz. Ich bin Belladonna. Ich bin eine Schlange mit glänzender Haut, eine Verführerin, die mit ihrer Dunkelheit bezaubert, still vergiftet und sich in den Schwanz beißt. Ich umschlinge alle. Ich bin die Schönheit, die sich allen zeigt, aber niemandem gehört, genau wie die Hässlichkeit. Ich bin der Exodus. Erinnerst du dich noch, wie das versprochene Land duftet? Hörst du, wie es ruft? Berühre mich. Berühre mich, damit ich dich mit Gift befruchten kann, das dein Blut zum Schaum werden lässt. Lass mich dich vergiften, bis aus deinen Wunden Federn wachsen, bis die Krähe wiedererwacht und mit ihren Flügeln schlägt.
Ich werde dich zu den Gipfeln fliegen, dich auf die Spitze einer Pyramide setzen und dich dann hinunterstürzen, in den Hades, in den du dich in Dantes Inferno wünschen wirst, damit du das nächste Mal noch höher steigen kannst. Es steht dir nicht zu, konvulsivisch in deinem Zimmer herumzuzappeln, Judas. Wach auf, denn dies ist deine einzige Chance, dem Samsara zu entkommen. Dies ist deine Chance, eine Flutwelle auszulösen und alles zu versenken. Alles, alles, alles. Ich erscheine nur den Aposteln, nicht der Welt. Ich habe mich dir offenbart. Erkennst du mich denn immer noch nicht? Erkennst du dich denn selbst nicht?
Ich möchte dir einen noch höheren Weg zeigen:
Wenn ich in den Sprachen der Menschen und Engel redete,
aber keine Liebe hätte, wäre ich nur
klangloses Messing und eine klingende Zimbel.
Und wenn ich prophetisch reden könnte
und alle Geheimnisse der Welt und alle Weisheit hätte,
und hätte ich allen Glauben, sodass ich Berge versetzen könnte,
aber keine Liebe hätte, so wäre ich nichts.
Und wenn ich alles, was ich habe, den Armen gäbe,
wenn ich meinen Leib dem Feuer übergäbe,
aber keine Liebe hätte, würde ich nichts gewinnen.
Die Liebe ist langmütig, die Liebe ist gnädig, sie ist nicht eifersüchtig.
Die Liebe prahlt nicht und bläht sich nicht auf.
Sie handelt nicht unanständig, sucht nicht ihren Vorteil,
sie hält nicht nach dem Bösen,
sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit,
sondern freut sich an der Wahrheit.
Sie erträgt alles, glaubt alles,
hofft alles und hält alles aus.
Die Liebe hört niemals auf.
Prophezeiungen werden verschwinden, Sprachen werden verstummen, Die Erkenntnis wird ein Ende haben. Unsere Erkenntnis ist unvollkommen und unsere Prophezeiungen sind unvollkommen. Wenn aber das Vollkommene kommt, wird das Unvollkommene verschwinden.
Hab keine Angst. Glaub und sündige mutig. Du bist nach einem Abbild geschaffen. Wir alle sind Abbilder in einem endlosen Spiegelreich. Schlag mit der Faust gegen den Spiegel, bis Blut aus deinen Knöcheln fließt, und erschreck dich nicht, wenn dein Spiegel mein Auge ist. Ich werde dich mit Tränen waschen, damit du die Welt überfluten kannst. In meiner Pupille ist Platz für den Himmel, für alle Wolken und die Spiegelbilder aller Wolken. Ich liebe dich so, wie nur der Tod das Leben lieben kann. Ich bin der Tod, der dich bis auf die Knochen entblößen will. Wo versteckst du dein Herz? Ich werde es trotzdem finden. Töte mich, bevor ich dich töte, bevor die Lippen, die dich gefunden haben, dich vernichten. Öffne deinen Mund, damit ich in deine Augen fallen kann, ocule mi, damit ich mit Worten fallen kann, bis keine Worte mehr nötig sind. Öffne dich. Öffne dich mit deinem ganzen Körper. Ich möchte dich lesen, so wie du ein Buch liest, dessen Seiten nach Salz riechen. Öffne dich, denn mein Gift fließt ohnehin in deinem Blut. Lass mich dich kennenlernen. Ich werde dich mich kennenlernen lassen, bis wir endgültig verschwunden sind. Wir werden verschwinden, bis es keinen Raum und keine Zeit mehr gibt, bis es keine Zahlen und andere banale Universalien mehr gibt. Öffne dich. Auch das Töten ist eine Form der Schöpfung. Schau mich an. Ich nehme dir die Erinnerung. Ich verschlinge den Schmerz. Ich nähe dir die Augenlider zu. Näh mich in die Seiten des Buches, das du schreibst. Ich verspreche dir, wir werden die Einsamkeit zu zweit erleben, Judas.
Deine Belladonna
Aus dem Litauischen von Ruth Leiserowitz
Veranstaltungspartner:
Goethe-Institut-Litauen