
Jonas Valonis (studiert an der Universität Vilnius, an der Historischen Fakultät, 1. Jahr Geschichte (MA)
Unbekannt
Ich hatte einen Brief an den Gemeindevorsteher von Dusetos geschrieben und erhielt nach einigen Tagen eine Antwort. Auf meine Frage hin stellte sich heraus, dass der Brief weitergeleitet worden war und die Antwort nicht vom Gemeindevorsteher, sondern von seinem Stellvertreter kam. Der Stellvertreter empfahl mir, mich an zwei Personen zu wenden: an eine aus Gipėnai und eine aus Zaduoja. Zuerst nahm ich Kontakt zu der Frau aus Gipėnai auf. Im Gespräch schlug sie mir vor, mich mit Irena aus Rokiškis zu unterhalten, vielleicht wüsste sie etwas. Schließlich, beim vierten Anlauf, natürlich ohne es zu Beginn zu ahnen, landete ich dort, wo ich hinwollte.
Irena, stellen Sie sich vor, ist die Enkelin der Frau, die ich gesucht habe. Nach einem herzlichen, sogar etwas bewegenden Gespräch (ich war ein wenig gerührt) und einem späteren Briefwechsel ging ich ins Archiv und unterschrieb auf dem Formular für die Benutzung der Dokumente neben dem Name von Irena. Zwischen unserem Besuch im Archiv und der Bestellung derselben Akte lagen mehr als zwei Jahre. So kam es, dass im Laufe einer mikrohistorischen Untersuchung die Namen völlig unbekannter Menschen nebeneinander standen.
Einen Auszug aus Povilas´ Tagebuch[1] fand ich am 21. März im Archiv. Am nächsten Tag begann ich mit der Auswahl der Texte. Jetzt, am 11. Mai, habe ich das gesamte Tagebuch transkribiert, textologische und sachliche Kommentare verfasst und die Einleitung zur Veröffentlichung geschrieben. Es bleiben nur noch wenige Korrekturen.
Die erhaltenen Tagebucheinträge umfassen den Zeitraum vom 23. Januar bis zum 18. Mai 1944. Da ich jeden Tag genau wie der Tagebuchautor vor achtzig Jahren lebe, konnte ich mich so sehr in Povilas Persönlichkeit hineinversetzen, dass ich sogar begann, ihn nachzuahmen. Zunächst einmal in meinem Tagebuch. Es ist bemerkenswert, wie das Verhalten eines anderen Menschen nach so langer Zeit einen beeinflussen kann?!
Das Interessanteste daran ist, dass ich gar nicht nach diesem Tagebuch gesucht habe. Ich war auf der Suche nach einem Agenten, der sich als Neunzehnjähriger, noch bevor er Agent wurde, für die Litauischen Sonderverbände gemeldet hatte.[2] Ich dachte, ich würde seinen Nachnamen in den Einberufungslisten finden. Leider nicht. Dann fiel mein Blick auf die Akte eines Grundschullehrers, das Tagebuch des Unterleutnants Povilas Anėnas. Das ist allerdings nicht verwunderlich – für einen Historiker ist es ganz normal, an solchen Dingen hängen zu bleiben.
Ich kann nicht erklären, woher meine Gewohnheit stammt, aber immer, wenn ich ein Dokument aus der Vergangenheit lese, schaue ich nach, was genau an dem Tag, an dem ich das Dokument lese, der Autor gemacht hat und was überhaupt geschrieben wurde.
Das geschieht vermutlich aus dem Wunsch heraus, mich mit der Vergangenheit zu identifizieren und so, wenn das überhaupt möglich ist, eine Verbindung zu spüren… Da ich also von Anfang an wusste, wie wichtig dieses Dokument für mich ist, blätterte ich ziellos, las hier und da etwas und stieß schließlich auf den Eintrag vom 21. März.
Ich erinnere mich, dass mich ein seltsames (verdächtig vertrautes?) Gefühl überkam. Einige Tage später, nachdem ich das gesamte Tagebuch gelesen hatte, fühlte ich mich genauso. Ich stieß auf einen Eintrag von einem Tag, an dem nichts Besonderes passiert war. Povilas, der es ansonsten genoss, sich zu bewegen, wachte um 6 Uhr auf und stand auf. Nach dem Frühstück las er (vermutlich Zeitungen), schrieb in seinem Tagebuch und setzte den Brief fort, den er am Vortag an den Lehrer der neuen Grundschule in Pakievė (heute Pakėvis, Kreis Kelmė) begonnen hatte. Nachdem er den Brief beendet hatte, begann er, Bernardas Brazdžionis „Per pasaulį keliauja žmogus“ [Ein Mensch reist durch die Welt] zu lesen. Von 13 bis 16.15 Uhr schlief er, las dann bis zum Abendessen und verbrachte den ganzen Tag zu Hause. Um 22.30 Uhr ging er schlafen.[3] Das ist alles.
Ich kann mich nicht erinnern, dachte ich mir im Taxi vom Archiv auf dem Weg zur Arbeit, wann ich das letzte Mal einen ganzen Tag lang ein Buch gelesen habe. Im Vergleich zu anderen Einträgen ist der 21. März tatsächlich nihil speciale[4], aber warum habe ich das Gefühl, dass dieser Eintrag für einen Historiker eine größere Entdeckung birgt als beispielsweise derjenige, in dem der erste gefallene Soldat der litauischen Heimatarmee erwähnt wird[5]?
Nachdem ich das Tagebuch mehrmals gelesen hatte, begann ich nach weiteren Informationsquellen zu suchen. Ich durchforstete alle Archive. Auch jetzt, d. h. morgen, erwarte ich einen Brief von der Pädagogischen Akademie der VDU und einen Anruf von der Direktorin der Donatas Malinauskas-Grundschule in Onuškis. Povilas hatte das Pädagogische Institut in Vilnius absolviert, und die Kompanie des 303. Bataillons der Litauischen Sonderverbände, als deren Offizier er diente, war in Onuškis stationiert.
Als ich das Schicksal von Povilas begriff, genauer gesagt, als ich es erahnte, beschloss ich, meine Suche zu intensivieren. Bis jetzt kann ich anhand der Informationen aus den gefundenen Hilfsquellen sagen, dass mein Glaube mich gerettet hat. Ich habe die Grenzen des Tagebuchs überschritten und Povilas aus der Unbekanntheit befreit. Nur für einen kurzen Zeitraum, aber das reicht.
Das Telegramm, das Povilas den Kindern der Grundschule in Pakėvis vorlas, in dem der Bürgermeister von Vaiguva angewiesen wurde, Povilas darüber zu informieren, dass er sich am 17. März in Marijampolė beim Kommandeur des 303. Bataillons zu melden habe, behielt Povilas und trug es immer bei sich. Er schrieb dessen Inhalt Wort für Wort in sein Tagebuch, aber auch der Wortlaut selbst ist erhalten geblieben.[6]
Zwar weinten einige Kinder, als sie hörten, dass ihr Lehrer weggehen würde, doch ist anzunehmen, dass die militärische Disziplin und Strenge, die sich im täglichen Verhalten der Schüler nach dem Unterricht und in Vaižgants[7]Schlägen äußerten, der Autorität des Lehrers keinen Abbruch taten. Die Kinder erinnerten sich wahrscheinlich lieber an das Skifahren auf dem Teich[8] während des Sportunterrichts oder an das Spielen von „Anklopfen“[9], bis sie rot wurden. Oder vielleicht an „Bonbons“?
Die Klärung der Frage, wie das Telegramm und die herausgerissenen Tagebuchseiten, die sich im Privatbesitz von Povilas befanden (Povilas war in Bezug auf sein Eigentum sehr sensibel), in das Archiv gelangt waren, lieferte den ausschlaggebende Impuls für die Suche. Die Standarderklärung in den Archivakten lautet: „Die Quelle der Dokumente und das Datum ihrer Übergabe an das staatliche Archivsystem sind nicht bekannt.“ Das bedeutet, dass sie es selbst nicht wussten. Wenn man sich mit dieser Erklärung zufrieden gibt, kann man sich nur ärgern, so wie Povilas damals, als die marschierende Kompanie nicht sang.[10]
Im Jahr 1936, im Alter von zwanzig Jahren, schloss er das Knabengymnasium Šiauliai[11] mit dem Pflichtfach Wirtschaft ab (was die zahlreichen Preisangaben in seinem Tagebuch erklärt) und trat, da er keine Arbeit fand, ein Jahr später in die Militärakademie in Kaunas ein.[12]
Nach dem Tod seines Vaters im Jahr 1938 hatte Povilas die Verantwortung für den Unterhalt seiner Mutter, seiner beiden Schwestern und seines Bruders, weshalb er nach Abschluss der Militärakademie[13] im selben Jahr sofort in das Pädagogische Institut in Klaipėda eintrat.
Am 23. März 1939, nach dem die Deutschen Klaipėda besetzt hatten, wurde das Institut nach Panevėžys verlegt und am 27. November desselben Jahres nach Vilnius. Im Jahr 1940, dem letzten Sommer des unabhängigen Litauens, beendete Povilas das Pädagogische Institut in Vilnius als diplomierter Grundschullehrer.
Die Studienzeit in Panevėžys war von einer wichtigen Entscheidung geprägt – Povilas änderte seinen Nachnamen.[14] Ob diese Entscheidung nach dem Tod seines Vaters leichter fiel oder ob der Erhalt seines ersten Reisepasses ausschlaggebend war, lässt sich anhand historischer Dokumente nicht klären. Es scheint, dass Povilas damals noch kein Tagebuch führte (aus einem erhaltenen Tagebuchfragment wissen wir, dass seine frühesten Einträge aus dem Jahr 1942 stammen).
Nun war es offiziell – Povilas Ananjevas hatte seinen Nachnamen in Anėnas geändert und unterschrieb fortan mit seinem vollständigen neuen Nachnamen, wobei er die Buchstaben P und A elegant miteinander verband.
Spätere Archivdokumente geben weitere Einblicke in seine Studienzeit in Panevėžys. Sie sind nicht nur wichtig, um die sich herausbildenden Persönlichkeitsmerkmale von Povilas zu erfassen, sondern halfen auch dabei, ihn auf einem Foto zu finden.
Zunächst ist zu erwähnen (auch wenn keine Informationen über direkte Kontakte vorliegen), dass Adolfas Ramanauskas, der später zum Anführer der litauischen Partisanen Adolfas Ramanauskas-Vanagas wurde, ein älterer Kommilitone in Panevėžys war (wo er gleichfalls das Institut absolvierte).[15] Die beiden Männer kannten sich zweifellos. Povilas, der zuerst die Militärschule und anschließend die Pädagogische Hochschule absolvierte, und Adolfas, der zuerst die Pädagogische Hochschule und unmittelbar danach die Militärschule besuchte, sind Beispiele für die Mentalität bewusster junger Männer in Litauen. Die Berufswahl beider – Lehrer zu werden und dann dem Widerstand beizutreten – sind gekennzeichnet durch tragischen Ereignisse im besetzten Litauen.
Povilas verschwieg, dass er während seines Studiums Mitglied der Litauischen Schützenunion[16] war, und gab in seinem Lebenslauf, den er 1941 beim Militärkommissariat des Bezirks Zarasai einreichte,[17] falsche Angaben an, als er sich um eine Stelle als Lehrer für militärische Ausbildung an Grundschulen bewarb. Aus einer Befragung im Vorjahr, wo er peinliche Nachfragen beantworten musste, hatte er offensichtlich. Stattdessen trug er in seinem Lebenslauf den lateinischen Namen der Korporation, der er angehört hatte, in kyrillischer Schrift ein: Terra Samogitiae. Auf einem Foto der Gründungsversammlung der Korporation 1939 in Panevėžys ist Povilas in der dritten Reihe von unten, als erster von links, zu sehen.[18] Nach Abschluss des Pädagogischen Instituts wurde Povilas zum Leiter der Grundschule in Gipėnai in Zaduoja (heute Zarasai, Antazavė) ernannt. 1941 wurde er auf eigenen Wunsch an die Schulen in Savėnai und Ajočiai (heute Zarasų r., Gemeinde Suviekas) versetzt.[19] In der Volkszählung des Generalbezirks Litauen von 1942 finden wir Povilas als Bewohner der Dorfschule von Ajočiai zusammen mit einer weiteren Lehrerin, einem Wachmann und einer Haushälterin.[20] Die Volkszählung im Dorf Savėnai[21] wurde übrigens von Povilas selbst durchgeführt. Das Schuljahr 1943 begann Povilas bereits in der Grundschule von Pakėvis[22], die sich damals im Gutshaus des Ortes befand.
In dem von den Nazis besetzten Litauen, unter den Bedingungen des Kriegsalltags, mit stetem Mangel an Lebensmitteln und ständiger Unsicherheit über die Zukunft und das für einen jungen Mann, der für seine Familie sorgen musste und nur 77 Reichsmark verdiente (in seinem Tagebuch drückte er diesbezüglich seine Befürchtungen aus)[23], war der Aufruf des General Povilas Plechavičius, der zur Meldung für die neu zu bildende Litauischen Sonderverbände ermunterte, eine Chance, seinen wahren Wert unter Beweis zu stellen.
Povilas, der sich am 21. Februar 1944 in Šiauliai für die Armee meldete, beschrieb seinen komplizierten Reiseweg, der die schwierige Verkehrslage zwischen der Provinz und den großen Städten illustrierte. Die Beschreibung spiegelt auch die schwierigen Umstände der Bildung der Litauischen Sonderverbände wider (trotz der Höhe der Meldungen von 19. 500 Männern, die sowohl Deutsche als Litauer überraschten).[24] Diese Fakten werden von historischen Dokumenten untermauert und ergänzt. Sie belegen auch die ständigen Behinderungen der Deutschen bei der reibungslosen Bildung der Bataillone.
Einige Tage vor der Tragödie der litauischen Heimatarmee, ihrer Entwaffnung und Auflösung, notierte Povilas am 12. Mai zwei Sätze, die die Aufmerksamkeit aller Erforscher der litauischen Tagebücher des 20. Jahrhunderts verdienen: „Ein sehr schöner, ruhiger Abend, und als ich morgens aufwachte, hörte ich eine Nachtigall vor dem Fenster. Gestern habe ich zum ersten Mal Frösche quaken gehört.“[25]
Die Aufmerksamkeit für die Natur ist eher ein Charakterzug von Povilas als ein Abklatsch der deutschen Art Tagebuch zu schreiben. Auch die Betonung seiner eigenen Bildung und die Zurschaustellung seiner Popularität in einer ungebildeten ländlichen Umgebung sind Ausdruck seines Selbstwertgefühls. Sein Umherwandern sowie dem Gesang einer aufgereihten Gruppe zu lauschen, ist eine Zurschaustellung der durch den Rang verliehenen Macht. Soweit dies aus den erhaltenen Tagebuchfragmenten hervorgeht, hatte sich Povilas´ Persönlichkeit schnell herausgebildet, er zeigte jedoch auch Zeichen von Mitgefühl, Anstand und Hingabe.
Seine Aufmerksamkeit gegenüber der Kirche (der Frömmigkeit) und den Priestern ist eines der Persönlichkeitsmerkmale, die mit seinem Ehrsucht oder Stolz konkurrierten (bzw. im Gegensatz dazu standen). Von Beginn seines Tagebuchs an zeugen Povilas´ Aufzeichnungen von seinen häufigen Besuchen in Kirchen und seinem Umgang mit den örtlichen Pfarrern in Vaiguva, Šiauliai und auch in Marijampolė. Natürlich darf man den wichtigen Aspekt der Zusammenkunft und des Wissensaustauschs nach der Messe (vor allem auf dem Land) nicht vergessen. Übrigens wurde Povilas bereits in Marijampolė (auf eigene Initiative) vom Bataillonskommandeur zum Verantwortlichen für die Beichte der Soldaten ernannt[26], was bedeutete, dass Povilas sonntags (und nicht nur dann) die Kompanie in die Kirche führte.
Die Kompanie des 303. Bataillons der Litauischen Heimatarmee wurde in Onuškis disloziert und richtete im Gebäude der Grundschule eine Kaserne ein. Povilas und der Kommandeur wurden in der Pfarrei untergebracht. Zu dieser Zeit war Nikodemas Švogžlys-Milžinas[27] Pfarrer in Onuškis, mit dem Povilas, wie zu erwarten war, schnell Freundschaft schloss.
Die Freundschaft zwischen Povilas und dem Pfarrer beschränkte sich nicht nur auf den Besuch von Gottesdiensten oder Begegnungen im gemeinsamen Haus, wobei man die mehr als 100 Männer, die sonntags zum Gottesdienst kamen, nicht unterschätzen darf, wenn man bedenkt, dass damals etwa 600 Menschen in der Stadt lebten. (Die Juden von Onuškis waren im September 1941 von den Nazis und lokalen Kollaborateuren nach Trakai deportiert worden.)[28] Der Pfarrer lud Povilas zum Mittagessen ein, gab ihm Bücher für ein Paket nach Hause und zeigte ihm sogar sein Tagebuch.[29]Povilas kaufte vom Pfarrer Schulbücher, die er seinen ehemaligen Schülern nach Pakėvis schickte.
Der letzte Eintrag in Povilas Tagebuch stammt vom 18. Mai in Onuškis. Daraus erfahren wir, dass Povilas in der Hoffnung auf seine Abreise seine Sachen gepackt hatte. Leider zwangen die weiteren Ereignisse Povilas, sein gesamtes Hab und Gut in der Pfarrei zurückzulassen. Wahrscheinlich wurden sie auf Anweisung des Pfarrers schnell versteckt, sodass niemand verraten konnte, wo sie sich befanden.
Das ist alles. Nach seinem Tagebucheintrag gibt es keine weiteren Informationen über Povilas Anėnas. Povilas wird weder in einem der Bücher zur Geschichte der Litauischen Sonderverbände noch in den Erinnerungen anderer Mitglieder der Armee erwähnt.
An dieser Stelle der mikrohistorischen Untersuchung musste ich mich ganz auf Hilfsquellen konzentrieren und mich – wie Povilas selbst – an die Kirche wenden.
Es stellte sich heraus, dass Nikodemas Švogžlys-Milžinas, der Pfarrer von Onuškis, ein umfangreiches schriftliches Vermächtnis hinterlassen hat, das im Archiv der Diözese Kaišiadorys aufbewahrt wird. Im Band III der sechsbändigen autobiografischen Erzählung „Mano gyvenimo pasaka“ [Die Geschichte meines Lebens] über seine Zeit als Pfarrer in Onuškis finden wir im Kapitel „1944 metų pavasaris“ (Frühling 1944) einen Bericht über die Plechavičius-Einheit.
Der Pfarrer erinnert sich an die Dislozierung der Einheit in der Schule von Onuškis, jedoch spart er mit lobenden Worten. Die in Povilas´ Tagebuch festgehaltenen, traurigen, aber herzlichen Beziehungen finden in Milžinas´ Aufzeichnungen keinen Niederschlag. Auch ihrer Freundschaft wird keinerlei Beachtung geschenkt. Das ist jedoch nicht wichtig, wichtig ist, dass Milžinas einen der möglichen Wege von Povilas ins Ungewisse schildert.
Eines Morgens wurde die Schule in Onuškis, in der sich die Einheit befanden, von deutschen Soldaten umzingelt, und es kam auch ein Panzer. Einige der Soldaten ergaben sich, erinnert sich Milžinas, andere flohen noch in der Nacht (Sie flohen jedoch nicht, sondern wurden wie Povilas und der Unterleutnant Povilas Dundulis nach Rudiškės verschleppt). Einige weitere versteckten sich mit Hilfe der Dienerin des Pfarrhauses auf dem Dachboden der Kirche.[30]
Es ist schwer zu verstehen, wie manchmal aufgefundene Informationen einen Historiker beeinflussen können – ich habe sofort erkannt (obwohl ich mir sehr gewünscht hätte, dass es nicht so wäre), dass Povilas nicht zu denen gehörte, die sich in der Kirche versteckt hatten. Ach, es hätte ihm so gut gefallen, dort zu sein… Nach einem Tag, in der Nacht, brachte eine Dienstmagd die Versteckten in Zivilkleidung in den Wald. Es ist wahrscheinlich, dass sie überlebten, weil sie sich versteckt hatten..
Die Erzählung von Milžinas bestätigte meine Befürchtungen über Povilas Schicksal, aber sie war nicht ausschlaggebend für die Bildung meiner Meinung. Die Antwort, muss ich zugeben, lag immer in der Luft, genauer gesagt, vor meinen Augen – und vor den Augen eines Fünfjährigen.
Zu dieser Zeit war Aleksandras Naudžiūnas[31] Direktor und Lehrer der Schule in Onuškis. Povilas hatte ebenfalls Kontakt mit ihm. Er lebte gemeinsam mit seiner Frau, ebenfalls Lehrerin, und seinem Sohn Algimantas in der Schule. Die Erinnerungen des fünfjährigen Sohnes des Lehrers an den Panzer vor der Schule waren besonders eindrücklich. Ich bin überzeugt, dass er Povilas in seinen Erinnerungen behalten hat.
Hier finden Sie einen vollständigen Auszug aus der Monografie „Onuškis“, in der Algimantas Jonas Naudžiūnas sich viele Jahre später, im Alter von 76 Jahren, an die Entwaffnung der Gruppe erinnert:
„Mir, einem fünfjährigen Kind, ist die tragische Entwaffnung einer litauischen Soldatenkompanie in der Stadt Onuškis in Erinnerung geblieben. Am Abend zuvor war ein deutscher Aufklärungsflugzeug angekommen und kreiste tief über der Stadt und der Schule, und am nächsten Morgen sahen wir von Trakai her deutsche Motorradfahrer, einen Panzer und eine Reihe von Fahrzeugen mit deutschen Soldaten heranfahren. Unsere Eltern erkannten die Lage und da wir in einer Wohnung in der Schule wohnten, ließen wir alles stehen und liegen und rannten auf die andere Straßenseite gegenüber der Schule. Der Panzer hielt vor der Schule und richtete seine Kanone auf die Fenster der Schulaula im zweiten Stock. Die Deutschen stellten sich mit entsicherten Maschinenpistolen in zwei Reihen von der Schultür bis zu den Lastwagen auf und bildeten einen breiten Korridor, während Motorradfahrer mit Maschinengewehren auf Anhängern durch die Straßen der Stadt patrouillierten. Währenddessen öffnete ein litauischer Soldat der Kompanie das Fenster der Schulaula vor dem Panzerrohr, stellte einen Spiegel auf und rasierte sich ganz ruhig, als ob um ihn herum nichts geschehen würde und es für ihn in diesem Moment nichts wichtigeres gäbe, als seinen Bart zu rasieren. Die litauischen Soldaten gingen einzeln an den Deutschen vorbei: Sie warfen ihre Gewehre auf einen Haufen, ihre abgenommenen Gürtel mit den Patronen in einen anderen und stiegen auf die Lastwagen. Die faschistischen Soldaten brachten den bereits in Zivil gekleideten Kompaniechef, der im Pfarrhaus gewohnt hatte, herbei. Die Lastwagen standen in einer Reihe – ein Lastwagen mit Deutschen, ein Lastwagen mit litauischen Soldaten, ein Lastwagen mit Deutschen usw. – und fuhren dann in Richtung Trakai los. Es gab keine Zwischenfälle. So wurde die Kompanie der Litauischen Sonderverbände von General Povilas Plechavičius in Onuškis entwaffnet, die nicht auf der Seite des faschistischen Deutschlands kämpfen wollte. Ihr Ziel war ein unabhängiges Litauen.[32]
Nicht der Kompaniechef war in Zivilkleidung herbeigeführt worden, sondern Povilas, für den das Tragen ziviler Kleidung weitaus üblicher war als für den Kompaniechef, den Unterleutnant Vytautas Bacevičius.[33] Dieser hielt sich nach der Auflösung der örtlichen Miliz versteckt und floh zu den Partisanen. 1945 wurde er verhaftet und am 26. November 1946 zum Tode verurteilt und erschossen. War er vielleicht einer von denen, die sich auf dem Dachboden der Kirche versteckt hatten?
Von Onuškis wurde Povilas nach Trakai gebracht, von dort wahrscheinlich nach Vilnius. Wenn Povilas nicht unter den zwölf Männern war, die am 21. Mai in Paneriai[34] erschossen wurden, wurde er auf einen der deutschen Flughäfen oder in eine Fabrik zur Arbeit verschleppt oder kam zusammen mit 982 anderen Soldaten in das Konzentrationslager Oldenburg.[35]
Nun, am 17. Mai, einen Tag vor Povilas´ letztem Eintrag, überlege ich, ob es wirklich ausreichend war, Povilas aus dem Geheimnis des Tagebuchs zu entlassen und ihn in eine noch breitere Skala des Verschwindens ins Unbekannte aufzunehmen. Ich denke, ja. Schließlich habe ich alle möglichen Wege eingeschränkt. Durch die Lektüre des Tagebuchs, das Erleben von Povilas´ Erfahrungen, den Besuch in Vaiguva und Onuškis und das Vernehmen der Frösche in diesem Frühjahr habe ich (wirklich) die Grenzen meiner Erkenntnis überschritten und neue Bekanntschaften und Erfahrungen in mein Leben gebracht. Jetzt bin ich gespannt, worüber Povilas und Irenas Großmutter korrespondiert haben.
Aus dem Litauischen von Ruth Leiserowitz
[1] Tagebuch von Povilas Anėnas, LCVA[Litauisches Zentrales Staatsarchiv], f. R-675, ap. 1, b. 32, l. 1–11v. (im Folgenden: Tagebuch, Datum des Eintrags)
[2] Anmerkung der Übersetzerin: Diese Litauischen Sonderverbände wurden von General Povilas Plechavičius am 16. Februar 1944 als bewaffnete Organisation zur Wiederherstellung des litauischen Staates und zur Verteidigung seiner Grenzen gegründet. Im Mai 1944 löste die deutsche Besatzungsmacht diese Litauischen Sonderverbände auf und verhaftete die Angehörigen des Stabes.
[3] Tagebuch, 21. März.
[4] (lat.) Nichts Besonderes.
[5] Tagebuch, 28. April.
[6] Telegramm an den Vorsteher von Vaiguva, LCVA, f. R-660, ap. 2, b. 253, l. 8.
[7] Tagebuch, 7. Februar
[8] Tagebuch, 28. Februar.
[9] Tagebuch, 7. März.
[10] Tagebuch, 27. April.
[11] Duplikat des Diploms des Knabengymnasiums Šiauliai, LCVA, f. 556, ap. 1, b. 531, l. 180–189.
[12] Fragebogen für Lehrer des Volkskommissariats für Bildung der LTSR, LCVA, f. R-762, ap. 2, b. 664, l. 155v.
[13] Personalakten von Offizieren, Militärbeamten und Zivilbeamten, LCVA, f. 930, ap. 5, b. 78.
[14] Urkunde über die Namensänderung, LCVA, f. 1264, ap. 3, b. 70, l. 3.
[15] Diplom von Adolfas Ramanauskas, https://virtualios-parodos.archyvai.lt/lt/virtualios-parodos/34/pedagoginis-institutas-panevezyje-1939-metais-srva-pf/exh-265/panevezyje-1939-metais/case-1347#slide10 [2025 05 20].
[16] Anmerkung der Übersetzerin: Die Litauische Schützenunion (lit. Šaulių sąjunga) war eine 1919 gegründete paramilitärische Organisation, die 1940 von der sowjetischen Besatzungsmacht aufgelöst wurde. Führende Mitglieder wurden verhaftet und deportiert.
[17] Personalakten von Offizieren, Militärbeamten und Zivilbeamten, LCVA, f. 930, ap. 5, b. 78.
[18] Vrublevskių-Bibliothek der Litauischen Akademie der Wissenschaften, Manuskripte, F356-29 24v.
[19] Dienstakte des Lehrers des Bildungsministeriums, LCVA, f. 391, ap. 10, b. 382
[20] Allgemeine Volkszählung im Generalbezirk Litauen 1942, LCVA, f. R-743, ap. 2, b. 10114, l. 27.
[21] Allgemeine Volkszählung im Generalbezirk Litauen 1942, LCVA, f. R-743, ap. 2, b. 10113.
[22] Karteikarte des Lehrerdienstes des Bildungsministeriums, LCVA, f. 391, ap. 10, b. 382.
[23] Tagebuch, 27. Februar.
[24] Oskaras Urbonas, Lietuvos vietinė rinktinė 1944 metais [Die Litauische Sondereinheit 1944], in: Karys, Nr. 9 (1268), Juli 1951, S. 7–8.
[25] Tagebuch, 12. Mai.
[26] Tagebuch, 4. April.
[27] Nikodemas Švogžlys-Milžinas wurde am 10. April 1899 in Trebučiai, Bezirk Švenčionys, geboren und verstarb am 19. Januar 1985 in Vievis, Bezirk Trakai. Er wurde auf dem Friedhof der Kirche in Kernavė beigesetzt. Er war litauischer katholischer Priester, Schriftsteller, Heimatforscher und Sammler von Volkssagen.
[28] https://www.vle.lt/straipsnis/traku-apskrities-getai/ [2025 05 20].
[29] Tagebuch, 5. Mai.
[30] Schriftliches Vermächtnis von Kun. Nikodemas Švogžlis-Milžinas, Archiv der Diözese Kaišiadorys.
[31] Aleksandras Naudžiūnas, geboren am 12.06.1903. 1924 Abschluss des zweijährigen Lehrerlehrgangs in Aukštadvaris. Onuškis. Lehrer und Leiter der Grundschule seit dem 01.08.1941 (LCVA, f. 391, ap. 10, b. 10502).
[32] Onuškis, hrsg. von. Živilė Driskiuvienė, Versmė, Vilnius, 2017, S. 832–833.
[33] Vytautas Bacevičius, geboren 1915 in Alksniškiai, Sasnava, Marijampolė, absolvierte 1938 die Militärschule. Er wurde zum Leutnant befördert, dann zum 6. Infanterieregiment in Klaipėda versetzt und diente als Beauftragter für Verpflegung. Nach der Besetzung Litauens durch die Sowjets wurde er zum Leiter der körperlichen Ausbildung des 294. Schützenregiments der 29. Schützendivision der Roten Armee ernannt, später zum Kompaniechef der Militärakademie in Vilnius. Nach Ausbruch des Deutsch-Sowjetischen Krieges floh er nach Osten und geriet in deutsche Gefangenschaft. Er war in Alytus und Ostpreußen inhaftiert. Nach seiner Freilassung kehrte er zurück und arbeitete in Vilnius. Nach seinem Eintritt in die Litauischen Sonderverbände wurde er zum Leiter der Wirtschaftsabteilung der Militärakademie in Marijampolė ernannt. Nach der Auflösung der Litauischen Sonderverbände ging er in den Untergrund. 1945 schloss er sich den Partisanen an und war Chef des Stabes des Distrikts Tauras. 1945 wurde er verhaftet und zum Tode verurteilt. Er wurde am 26. November 1946 erschossen (LKK [Lietuvos kariuomenės karininkai 1918-1953 Die Offiziere des Litauischen Heeres 1918-1953], Band 2, S. 100–101).
[34] LYA [Litauisches Sonderarchiv], f. 3377, ap. 58, b. 265, l. 133, Į laisvę, Nr. 10 (33), 1944 06 01.
[35] LCVA, f. 1399, ap. 1, b. 106, l. 61.
Veranstaltungspartner:
Goethe-Institut-Litauen