
Dovilė Gervytė
Doktorandin an der Philologischen Fakultät der Universität Vilnius
Terra Fantastica
In einem Interview erwähnte Papst Franziskus einen verblassten Zettel, den er sorgfältig aufbewahrte. Auf diesem Zettel steht ein Gebet. Ich werde es nicht wörtlich wiedergeben, sondern so paraphrasieren, wie es mir in Erinnerung geblieben ist:
Ich möchte an Gott den Vater, glauben, der mich liebt;
ich glaube an meine Geschichte, die vom Blick der Liebe Gottes durchdrungen ist;
ich glaube an meinen Schmerz, der unfruchtbar ist aufgrund meines Egoismus, in dem ich Zuflucht suche;
ich glaube an die Kleinheit meiner Seele, einer Seele, die empfangen, aber nicht geben will;
ich glaube an den täglichen brennenden Tod, vor dem ich fliehe, der mich aber anlächelt und mir sagt, ich solle keine Angst haben;
ich weiß nicht, wie Er aussieht, aber ich möchte Ihn kennenlernen und lieben.[1]
Das Gebet, wie der Papst erzählte, habe er während einer spirituellen Erfahrung vor seiner Weihe niedergeschrieben. Ein kurzer, ekstatischer Moment, der jedoch in Worte gefasst wurde, die einen langen, schwer fassbaren Gedankengang beschreiben. Die Gebetszeilen beginnen mit Bekenntnissen des Glaubens, doch die Gesamtstruktur des Textes vermittelt nicht den Eindruck des Glaubens, sondern der Zweifel: „Ich möchte glauben – ich glaube – ich weiß nicht wie“.
Diese Zweifel sind nicht typisch. Es wird nicht an einer religiösen Wahrheit oder der persönlichen Stärke, diese zu verstehen, gezweifelt. Das Subjekt bezweifelt seinen festen Glauben– seine eigene Schwäche, seinen Schmerz. Die Wahrheit und die Festigkeit des Glaubens klingen in den Worten des Papstes paradox. Man glaubt nicht an etwas, das Hoffnung bringt, Glückseligkeit verspricht, sondern an etwas, das als unfruchtbar beschrieben wird, das brennt und zur Flucht antreibt. Mit der Aussage, dass er glaube, bezeugt das Subjekt des Gebets seine Haltung, aus der er sich dem Glauben zuwendet – indem er seine Unvollkommenheit reflektiert und seinen Egoismus offenlegt.
Als jemand, der neunzehnhundertachtundneunzig geboren wurde, klingt die Erklärung der Bedeutungslosigkeit des Lebens ebenso beeindruckend wie seltsam. Meine Generation würde ihre existenzielle Suche mittels anderer Worte formulieren, zum Beispiel:
Ich möchte an eine Welt glauben, in der ich meinen Platz habe;
Ich glaube an meine persönliche Stärke – ich bin gut genug, so wie ich bin;
Ich glaube, dass jeder Tag mir eigene Freuden bereithält, die ich nur entdecken muss;
Ich weiß nicht, wie die Zukunft angesichts der weltweiten Unruhen aussehen wird, deshalb möchte ich das, was der heutige Tag bringt, kennenlernen und schätzen
Spirituelle und psychotherapeutische Praktiken betrachten die Schwächen des Menschen positiv. Traumatische Erfahrungen verletzen eine weiche, sensible Seele so sehr, dass es später schwierig ist, diese Wunde zu heilen und zu schließen. Entsprechend ist das Ziel der genannten Praktiken: den Menschen in dem Prozess zu begleiten, in dem er, an seine innere Menschlichkeit glaubend, versucht, sich selbst wieder zu finden.
Improvisierte Gebete (oder Mantras, Affirmationen) stelle ich nicht in Gegensatz zu den Worten des Papstes. Vielmehr stelle ich sie nebeneinander, um darüber nachzudenken, welche Vektoren des Glaubens beide zeichnen. Christliche oder weltliche Glaubensgleichungen sind mit der Fähigkeit verbunden, Schwächen in der Selbstverwirklichung (oder im Schaffen allgemein) zu überwinden. In der Gebetsformel des Papstes wird die eigene Schwäche reflektiert, damit durch das Zweifeln an sich selbst oder an Gott beides besser erkannt und immer wieder neu entdeckt werden kann. Ähnlich verhält es sich in der weltlichen Tradition: Indem man den Schleier des Bösen abstreift, versucht man aus den Keimen der Menschlichkeit etwas Unbekanntes, Unvorstellbares wachsen zu lassen.
Wir sprechen von einem Glauben, der als schöpferische, gestaltende Kraft wirkt. Diese Kraft wiederum ist auf Ergebnisse ausgerichtet. Es ist anzumerken, dass an eine kreative Idee zu glauben bedeutet, sie sich vorzustellen und ihre Umsetzung auf intellektueller Ebene zu planen. Oft ist die Entwicklung eines kreativen Gedankens ein mühsamer, zermürbender Prozess. Wenn der Glaube einen Menschen zum Schaffen befähigt, hängt das Ergebnis des Schaffens zu einem nicht geringen Teil von den Anstrengungen ab, an der Idee festzuhalten.
Ich lade Sie ein, einen Blick auf das Dokument von Jurgis Kunčinas zu werfen, das im Archiv für Literatur und Kunst Litauens aufbewahrt wird (siehe unten).[2]
Der Entwurf ist auf 1989 datiert – zu einer Zeit, als der Dichter sich im Schreiben von Prosa versuchte. Oben auf dem Entwurf hat der Autor handschriftlich „Terra Fantastica” (und auch die Version „Terra Fantasia”) vermerkt. Der Vermerk unter der Überschrift präzisiert den Inhalt des Dokuments: „Werke bis 1995“. Weiter unten im Manuskript sind vierzehn literarische Werke in Stichpunkten, fast wie in einem Gebet, aufgelistet. Kunčinas plante für einen Zeitraum von sechs Jahren die Werke, die er in Angriff nehmen wollte: eigene Romane, Novellen aber auch Übersetzungen aus dem Deutschen.
Wenn man das Dokument heute liest, entsteht ein doppelter Eindruck. Einerseits erkennen wir Werke aus der Bibliografie des Autors, die spätestens 1995 veröffentlicht wurden: den Roman Glisono kilpa [Glissonsschlinge], die Novelle Baltųjų sūrių naktis [Die Nacht der weißen Käse] und die Übersetzung des Romans Der Trinker von Hans Fallada aus dem Deutschen. Andererseits stoßen wir in dem Manuskript auf den Zustand der genannten Werke, als sie noch als kreative Ideen des Autors existierten oder, wie Kunčinas es nannte, als Träume, Fantasien. Fantasien, da es rational betrachtet selbst für einen Autor in der Blüte seiner Kräfte eine nicht unerhebliche Herausforderung darstellt, eine geplante Anzahl von Texten in der vorgesehenen Zeit zu schreiben. Darüber hinaus finden wir in der Liste keine neuen kreativen Ziele, die im Laufe des Jahres hinzugekommen sind, wie beispielsweise sein 1993 erschienener Roman Tūla. Das zweimal im Manuskript erwähnte Werk Kontingentas [Kontingent], das als sein erster Roman gilt, wurde vom Autor jedoch nie veröffentlicht.
Im Archiv seiner Entwürfe sind mehrere dieser Listen erhalten geblieben. Es ist anzunehmen, dass terros fantasticosden Weg des Schriftstellers zu seinen kreativen Ideen markierten. Kunčinas wechselte in seinen Entwürfen die Position der geschriebenen Werke: Je nach Lebensumständen und Bedingungen für eine Veröffentlichung wurden einige Werke zurückgestellt, während neue hinzukamen. Kunčinas aktualisierte seine Entwürfe im Laufe der Zeit und vermerkte, wenn ein Verlag ein Werk ablehnte oder ein schlechtes Cover entwarf. Er füllte die entworfenen Pläne wie ein Pilger, der sich zum Ziel gesetzt hat, einen langen Weg zurückzulegen, und die täglich zurückgelegten Kilometer an den Raststätten notiert.
Ich möchte auf den fünften Punkt des genannten Entwurfs aufmerksam machen. Darin hat der Autor seinen Wunsch festgehalten, Günter Grass‘ Danziger Trilogie ins Litauische zu übertragen. Rechts daneben hat Kunčinas den Vermerk hinzugefügt: „wenn ich den Auftrag bekomme“. Da er sich der Größe des Vorhabens bewusst war oder, wie man heute gerne sagt, seine Fantasie in die Realität umsetzen wollte, schrieb Kunčinas am Ende des Entwurfs noch den Satz: „All is real“. Wie wir wissen, wuchs aus dieser kreativen Idee in der bibliografischen Realität die Übersetzung des zweiten Teils der Trilogie (den ersten und dritten Teil übersetzte Teodoras Četrauskas). Hervorzuheben ist, dass Kunčinas‘ Glaube an die Veröffentlichung von Grass im Übersetzungsprozess nicht nur durch die Disziplinierung seiner kreativen Ideen, sondern auch durch politische Umstände auf die Probe gestellt wurde.
Den zweiten Teil von Grass‘ Trilogie, Katz und Maus, übersetzte und redigierte Kunčinas vor dem Hintergrund der Ereignisse Anfang 1991. In den Archiven sind Manuskripte erhalten, in denen der Autor den 13. Januar „aus erster Hand“ dokumentierte. In einer Notiz zu diesem Tag schrieb Kunčinas:
„Heute werde ich 44 Jahre alt […]. Trotz der angespannten Lage in Vilnius und Litauen haben mich gestern, am 12. Januar, meine Freunde besucht […]. Wir haben ständig Vilnius TV und später TSN Moskau geschaut […]. Nach Mitternacht […] beschlossen wir, alle heißen Orte in Vilnius abzufahren – vom Parlament bis zum Fernsehturm. Zuerst zum Parlament. Massen von Menschen, eine gedämpfte Stimmung. […] Die Spannung war zwar spürbar, aber sie lag tiefer. […] Litauen ist erschüttert – so lässt es sich kurz zusammenfassen.“[3]
In seinen Erinnerungen wechselte der Autor als echter Prosaist den Fokus der Erzählung: Er diskutierte politische Persönlichkeiten und hielt Momente fest. Auch Details des Alltags, in dem die Memoiren entstanden sind, wurden kommentiert:
„Meine Verwandten haben sich hier wie zu Hause eingerichtet, […] sie sind nervös und nerven mich. Ich war so gut in den Roman „Aitvaras“ [Glissonsschlinge – D.G.] eingetaucht, aber jetzt geht nichts mehr – es führt fast zu Krämpfen. […] Fast schade, dass ich keinen Alkohol trinken kann. Das ist natürlich keine Lösung, aber es würde entspannen. […] Morgen sollte ich die Korrektur von Grass‘ „Katz und Maus“ zu „Metams“ [Redaktion der Literaturzeitschrift RL] bringen, aber ich weiß nicht, ob sie noch gebraucht wird. Vielleicht wird der Text doch noch gebraucht. Die Militärs werden keine Literaturzeitschriften zulassen. Und selbst wenn, wird Grass nicht gedruckt werden, auch wenn er noch so herrlich über Minensuchboote, Flugzeugträger, Panzer und Kampfflugzeuge schriebe…“
Kunčinas, der davon träumte, Übersetzungen von Grass‘ Werken zu veröffentlichen, wurde jedoch von Enttäuschung eingeholt: Würde angesichts der veränderten politischen Lage jemand noch Interesse an seinem kreativen Werk haben? War es in der Traumphase noch wichtig, an die Idee der Übersetzung zu glauben, so wurde dieser Glaube im weiteren Verlauf der Entstehung des Werks durch die Möglichkeit einer Nichtveröffentlichung auf die Probe gestellt: Mehr als ein Jahr lang drohte die Übersetzung, den Leser nie zu erreichen. Kunčinas reflektierte am 14. Januar über die Sinnlosigkeit dieser Situation:
„15:45 Uhr. Der litauische Rundfunk sendet noch. Parlamentssitzung. Die Müllabfuhr ist auch pünktlich gekommen. Die Lage kann sich jede Minute ändern. Was bleibt noch? Ich habe den Text von Grass zur Weiterbearbeitung mitgenommen… Arbeit macht das Leben süß… Faulheit stärkt die Glieder… 1941, als die Armee des Führers in den Kreml einmarschierte, übersetzte Boris Pasternak in Moskau Shakespeares Sonette… und wurde dafür von einigen kritisiert.“[4]
Trotz den Zweifeln am Sinn seiner kreativen Arbeit übersetzte Kunčinas Grass weiter. Es ist paradox – zu schuften, ohne einen Sinn zu sehen. Andererseits können wir die, nennen wir sie, Schwäche des Schriftstellers hier positiv betrachten: als einen Prozess des persönlichen, aber auch auf den Leser ausgerichteten und somit gemeinschaftlichen Widerstands. Ein Prozess, dessen treibende Kraft der Glaube an die tägliche Arbeit ist: schmerzhaft und scheinbar sinnlos, aber dennoch dazu einladend, sich selbst dem Schmerz und der Sinnlosigkeit hinzugeben. Die Übersetzung von Grass im Kontext des 13. Januar wurde also nicht so sehr durch die heroische Haltung einer Person überwunden, sondern einfach durch den Glauben und das Vertrauen in den kreativen Arbeitsprozess, durch Disziplin. Am 17. Januar fasste Kunčinas zusammen: „Die Situation ist insgesamt sehr schlimm. Bald werden wir nichts mehr haben außer Armut und Chaos. Aber es gibt wirklich keinen anderen Weg.“
Der Glaube als schöpferisches Handeln ist mit dem Streben der Seele nach Freiheit verbunden. Eine Freiheit, in der Realitäten existieren, die es nicht gibt. Zum Beispiel ein Leser, der 1989 Grass auf Litauisch liest; oder Menschen, die wir nicht sind, aber sein möchten, denen wir näherkommen; sogar die politische Realität des 21. Jahrhunderts, in der das Reich des Bösen untergeht. Wie sagt Karl Rahner: „Wir sind, denken und handeln nur deshalb frei, weil wir alles, was definiert und wahrnehmbar ist, bereits durch eine Bewegung überschritten haben, die keine Grenzen anerkennt.“[5] Es ist eine Freude, wenn der Glaube die Freiheit der Gedanken begleitet; es ist eine große Gnade, wenn der Glaube nicht verschwindet und die erträumte Freiheit Gestalt annimmt.
- Juni, Vilnius
Redigiert 14. Juni, ebenfalls in Vilnius
Aus dem Litauischen von Ruth Leiserowitz
[1] Nach Sergio Rubin, Francesca Ambrogetti, Popiežius Pranciškus: Pokalbiai su Jorge Bergoglio [Papst Franziskus: Gespräche mit Jorge Bergoglio], aus dem Spanischen von Marija Bogušytė, Vilnius: Katalikų pasaulio leidiniai, 2013, S. 135–6.
[2] Siehe Jurgis Kunčinas, „Terra Fantastica“, Maschinenschrift mit Korrekturen des Autors, LLMA [Archiv für Literatur und Kunst Litauens], F. 799, nicht katalogisiert.
[3] Der Auszug hier wie auch die weiteren wurden wie folgt zusammengestellt: Jurgis Kunčinas, „Promemoria: 11.,13., 14. Januar 1991“, Typoskript mit Korrekturen des Autors, LLMA, F. 799, nicht katalogisiert.
[4] Anmerkung der Übersetzerin: Die Wehrmacht ist nicht in den Kreml einmarschiert. Es ist unklar, was Kunčinas, der die historischen Tatsachen natürlich kannte, mit diesem Satz aussagen wollte.
[5] (Die Übersetzerin konnte das Originalzitat im Deutschen nicht wiederfinden, es wurde sinngemäß zurückübersetzt.)Karl Rahner, Dievo potyris šiandien [Gotteserfahrung heute], aus dem Deutschen übersetzt von Antanas Gailius, Vilnius: Katalikų pasaulio leidiniai, 2012, S. 27.
Veranstaltungspartner:
Goethe-Institut-Litauen