Zwischen der Ausrufung der Republik Litauen, die den Reigen der Unabhängigkeit im Februar 1918 eröffnete und der Verkündung der lettischen Unabhängigkeit am 11. November lagen immerhin acht Monate, in denen das blutige Weltkriegstheater weiter fortgeführt wurde, aber auch an viele Orten Stillstand herrschte wie auch lähmende Ungewissheit. Manche Dinge, die sich im Laufe des Jahres konfigurierten, wie die Weißrussische Volksrepublik oder die Republik Perloja überlebten den Status der Vorläufigkeit nicht. Von anderen Veränderungen, die z.B. die Beschlüsse von Versailles mit sich bringen sollten, war noch nichts zu ahnen; so genossen die Niddener Gäste jenes Sommers völlig unbescholten ihren Urlaub und die Maler, wie Alfred Herrmann Helberger und Pranas Domšaitis, arbeiteten an neuen Bildern.

Für die heutigen Betrachter ist das an Ereignissen reiche Jahr in der Rückblende auf die Jahreszahl zusammengeschmolzen. Der vielfachen Dynamik von Geschehnissen, Gewissheiten und den Gefühlen jener Zeit soll in den Festivaltagen nachgespürt werden. Dazu gehört, sich an zahlreiche Dinge zu erinnern, die noch kurz vorher unmöglich schienen, wie an die sowjetrussische Kalenderreform, die Einführung des Frauenwahlrechts und nicht zuletzt die ersten eigenen Briefmarken der neugegründeten baltischen Staaten. Viele Konstruktionen waren in jenem Jahr jedoch in hohem Maße fragil und es war unsicher, wie lange sie bestehen würden.

Erst allmählich gewöhnten sich die Westeuropäer an die Existenz der neuen Staaten und das Zitat von Thomas Mann, das als Motto über unserem diesjährigen Festival steht, beinhaltet nicht nur die Feststellung, dass hier etwas Neues entstand, sondern auch den dringenden Wunsch, dass es sich bei den gerade gegründeten Republiken um demokratische Staaten handeln möge.

Das Erstaunen über die neue ostmitteleuropäische Landkarte ist im Übrigen nicht einmalig geblieben .Es kann daran erinnert werden, dass sich dieses Erstaunen wiederholte – im Sommer und Herbst 1991. Auch das Jahr 2004 gilt es in diesem Zusammenhang zu erwähnen, als diese nun nicht mehr ganz neuen ostmitteleuropäischen Staaten gemeinsam in die Europäische Union aufgenommen wurden.

Der genauere Rückblick offenbart darüber hinaus eine vielfache Aufbruchsstimmung, die im Jahr 1918 nicht nur den jungen baltischen frisch gegründeten bzw. wiederbegründeten Staaten innewohnte, sondern auch deutsche Künstler und Schriftsteller erfasste. Endlich erschien Heinrich Manns „Untertan“, seine Abrechnung mit dem wilhelminischen Deutschland, die er schon im Juli 1914 fertiggestellt, aber mit Rücksicht auf den Krieg noch nicht publiziert hatte. Der Roman, der gleich in einer Auflage von 100.000 Exemplaren auf den Markt kam, beförderte die Debatten um den Untergang des Wilhelminischen Reiches. Hingegen sinnierte sein Bruder Thomas Mann Ende Oktober 1918, also noch vor Kriegsende,  „von der literarischen Zukunft“. Er schrieb, dass es aussehe, „als stehe der Literatur im allgemeinen eine große Zeit bevor, als werde sie nach dem Kriege eine bedeutende Rolle im Leben der Völker spielen.“ Und er fuhr fort, dass er glaube, dass  „die Lebensform des Schriftstellers […] im Bewusstsein der Nation an Würde gewinnen [werde]“ und träumte „vom poetischen Geschmack des nachkriegerischen Europas.“

Jubiläen, insbesondere Centurien, beinhalten eine Rückschau und regen dazu an, die Vergangenheit mit allen guten und schlechten Ereignissen Revue passieren zu lassen und das Erreichte zu feiern. Derartige Jahrestage sollten aber auch immer einen produktiven Teil einschließen, der frühere Aufbruchsstimmungen aufgreift und sie mit dem Ausblick auf künftige Zeiten und Vorhaben verbindet.

In diesem Sinn beinhaltet das Musikprogramm des diesjährigen Festivals ein Konzert zur einhundertjährigen Unabhängigkeit von Litauen, Lettland und Estland, in dem Musikstudenten, künftige Chordirigenten der drei baltischen Staaten dirigieren werden.

Das Festivalprogramm des Sommers 2018 lädt Zuhörer und Zuschauer zum Feiern ein, regt an, Rückschau zu halten und Zukunftsperspektiven zu diskutieren.