Ich bin Neuankömmling in Vilnius, wohne hier gerade seit drei Jahren, obwohl das eigentlich nicht stimmt. Mindestens neun Monate von diesen drei Jahren habe ich bei meinen Eltern verbracht, weil wir alle von der Korona getroffen waren. Was meine Situation als Neuankömmling nicht gerade leichter macht, ist die Tatsache, dass ich überhaupt keine innere Navigation vorweisen kann. Das räumliche Vorstellungsvermögen ihrer geschätzten Autorin endete gleich nach den Pyramiden im Matheunterricht, und der übrige Raum, geteilt in drei Dimensionen, ist für sie ein unzugängliches Mysterium geblieben. Führt man mich in einen coolen Ort aus, bin ich nicht in der Lage, ihn wieder zu finden. Bittet mich jemand in meinem Gefährt auf vier Rädern irgendwohin zu bringen, bin ich ohne GPS aufgeschmissen. Und frage ich jemanden, wie lange dieser jemand braucht, um von zu Hause in die Innenstadt zu kommen, kommen mir Leute mit irgendwelchen mysteriösen und immer noch nichts sagenden Namen. Ich höre etwas in der Art: „Also von Naujamiestis (zu Deutsch wäre das Neustadt) habe ich halt gar nicht weit“, oder aber „Man weiß doch, es ist undenkbar von Bajorai schnell dorthin zu gelangen“, oder „Alles gut, von Fabai (was ordentlich Fabojoniškės heißen sollte und als Fabijonischkehs ausgesprochen wird) habe ich bloß ein paar Schritte zu Fuß“. Nach der letzten Bemerkung schaudern alle Zuhörer und fangen gleich an, eine sichere Rückkehr des Spinners zu planen, zu diesem geheimnisvollen Ort „Fabai“.  

Ich selbst wohne in Šnipiškės (was als Schnipischkehs ausgesprochen wird). Nachdem ich in Vilnius angekommen war, habe ich alle gefragt, wie denn mein Zauberwort heißen sollte, das A und O meiner Routen beschreibt. So konnte ich mich an Gesprächen beteiligen, ohne zu verstehen, um genau welche geographischen Orte es geht. So kann ich ein Teil von Vilnius sein. Das Problem ist aber, dass ich ja eigentlich ein Teil von Vilnius bin, aber eigentlich nicht wirklich ein Zuhause habe: ich wohne in einem Wohnheim, und ein Wohnheim ist doch kein Zuhause. Für diejenigen, die in einem Wohnheim wohnen, ist immer noch das Elternhaus ihr Zuhause, dennoch merkt man ungefähr beim Beginn des dritten Jahres, dass deine Eltern in deinem Zimmer irgendeinen Krempel stapeln und aufgehört haben, darin abzustauben. Dann musst du also schon darauf kommen, dass du auch dort kein Zuhause hast. Von der Innenstadt gehst du nicht nach Hause, du gehst zum Wohnheim; vom Wohnheim reist du nicht nach Hause, du reist zu den Eltern; und bei den Eltern bleibt dir nichts anderes übrig als die letzten Habseligkeiten zusammenzusuchen und dich im Reigen der moralischen Obdachlosigkeit zu drehen.  

Aber man ist ja kein Obdachloser, denn im Wohnheim hat man ein Bett und einen Tisch, manchmal gar einen Kühlschrank oder eine Mikrowelle. Man hat einen Fön, einen Teekessel und, wenn man Glück hat, schafft man sogar, Nudeln zu kaufen bevor der Laden zumacht. Man ist auch deswegen kein Obdachloser, weil man Mitbewohner hat, mit denen man den Tisch teilt oder den Kühlschrank, oder die Mikrowelle, oder sonst noch was. Mit denen man das Fenster teilt und den Blick durch das Fenster, den Schrank, später dann die Nudeln, daraufhin die Klamotten, weiterhin die Geheimnisse und schließlich auch das Gefühl der Obdachlosigkeit, welches kleine blutigen Einschnitte in den Armen hinterlässt, wo der jugendliche Optimismus pulsiert.  

Wo wir schon bei blutigen Armen sind: Vor kurzem stand ich vor meinem Wohnheim und mir ist ein seltsames Bild aufgefallen, ein Mann ging vorbei, berauscht von dieser Welt, mit einer Bierflasche in der Hand, allerdings bereitete die andere Hand ihm irgendwie größere Schwierigkeiten. Daraus, so schien es mir, sickerte Blut. Er hielt immer wieder inne, jede  paar Schritte, tastete die blutende Wunde ab und bewegte sich weiter. Er bewegte sich nur sehr langsam nach vorne, da er tatsächlich alle zwei-drei Schritte stehenblieb (dies ist einer der seltenen Fälle, wo ich nicht übertreibe: in der Tat jede zwei-drei Schritte). Diese Prozession fing an, mich zu stören, so dass ich Anstalten machte, zu ihm zu gehen und zu fragen, ob er vielleicht ein Pflaster braucht, oder einen Krankenwagen, oder irgendwas dazwischen, aber er erwiderte nicht, hat mich nicht mal angesehen. Er ging einfach weiter und blieb alle paar Schritte stehen. Es war mir dann irgendwann zu doof und unbehaglich, schließlich auch etwas ungeheuerlich, hinterherzurennen und immer wieder zu fragen, ob alles in Ordnung ist. Ich gab ihn auf. Er ging die Giedraičių-Strasse (der Name wird Giedraitschüh ausgesprochen) runter, weg vom Ort, den mir Vilniusser als Schanghai präsentierten.  

Schanghai, weil aus Amerika gekommen; Schanghai, weil dicht besiedelt; Schanghai, weil hier Schmutzfinke, Schweinigel wohnen; Schanghai, weil dieses Viertel pratiažnas ist; Schanghai, weil hier Roma wohnen; Schanghai, weil hier eine eigene Republik besteht. Ungefähr so deuten die Herkunft dieses Ortsnamen, in einer für lokale Bevölkerung eigenen aus dem Russischen und dem Litauischen gemischten Sprache, die Bewohner eines Schanghais mitten in Vilnius, die im Film von Jūratė Samulionytė „Šanxai Banzai“ verewigt sind. Für diejenigen, die immer noch keine Vorstellung haben, in welcher Ecke der Welt wir und befinden, sei erklärt, dass Schanghai (zu Litauisch Šanchajus) ein Ort direkt neben dem Rathaus ist, wenn man hinter „Europa“ weiter geht (wie es sich einem echten Schanghai auch gehört). Man entfernt sich kaum ein paar Schritte vom modernen Europa und modernen Vilnius, und gelangt schon in ein Paralleluniversum: kleine Holzhäuser, Kinder in Hausschuhen auf Fahrrädern, Katzen, Tulpen, Flieder, Kirschbäume, Apfelbäume, blaue Wasserhähne (Hydranten) draußen auf der Straße und all der Jazz. Wohl gar nicht Jazz, aber es ist schwer zu beschreiben, was genau das ist: es hat etwas vom mehrstimmig gesungenen, polyfonischen Volkslied in Moll Bėkit bareliai, dennoch in russischer Popsong-Fassung. Ein litauischer Schlagersänger Povilaitis mit Einschlüssen vom obszönen Rap. Folklore und Rock ’n‘ Roll.  

Nachts spaziere ich dort nie allein, aber tagsüber ist die Giedraičių-Straße zum Lieblingsabschnitt meiner täglichen Route geworden, ich fliege gerade diese Straße entlang, ohne den Boden zu berühren. Fast täglich stehe ich am frühen Mittag auf, mache mich fertig und gehe direkt los, die Giedraičių-Straße runter. Ungeduldig warte ich an der Ampel, die sich sehr selten auf Grün schaltet, fliege über Schanghai, fotografiere faulenzende Katzen durch fremde Fenster, dann nehme ich ohne große Begeisterung die Unterführung am bereits erwähnten „Europa“, tanke neue Energie aus dem Fluss Neris, als ich über die Weiße Brücke schlendere, und, nachdem ich trottend den Lukiškių-Platz überquert habe, öffne ich die Eingangstür meiner Akademie. Diese Route ist das, was ich heute am ehesten mein Zuhause nennen kann, und mein Lieblingsabschnitt endet viel zu früh.  

Ansonsten schätze ich Gras, Morgentau und Bäume viel mehr als Beton, Asphalt und Pflasterplatten. So ist eben meine Agrarnatur: eine genuine, litauische, gefühlt millionenfach in litauischen Prosa- wie auch Poesiewerken beschrieben. Deswegen liegen mir diese Holzhäuser, Kinder, Katzen, Tulpen, Flieder, Kirsch- und Apfelbäume so sehr am Herzen. Aber mit Holzhäusern meine ich nicht die kleineren Holzhäuser in Žvėrynas, ich meine die Holzhäuser im Dorf Stempliai im Kreis Švėkšna, die ich dann im Schanghai vorfinde. Auch die rennenden Kinder sind hier anders als in geschlossenen Höfen der Appartementhäuser. In Schanghai laufen sie öfters barfuß, in verschlissenen Klamotten, kreischen auf der Straße so als wären sie im eigenen Hof und sehen darin gar kein Problem. Umso mehr Probleme sehen dafür Mütter und Omas, die ihre Kinder wachsam beobachten, entweder von ihren Hinterhöfen und Balkonen, oder von Straßenbänken aus. Heutzutage fahren durch die sanierte Giedraičių-Straße natürlich auch Kinder aus Vilnius und Europa, mit Elektroscootern, und sie werden von ihren Müttern gleichermaßen wachsam beaufsichtigt, die sich dabei sogar amüsieren, und manchmal sind sogar ihre Väter dabei, die sich ebenso amüsieren. Eine Kollision von Paralleluniversen ist für Erwachsene nicht sichtbar, sie sehen einander eigentlich nicht wirklich, aber zwischen Kindern springt immer ein Funke der Neugierde über. Sie sind füreinander spannend sowohl als Ausstellungsobjekte in einem Museum, als auch als potenzielle Freunde, mit denen man Wasser spritzen, Sandburgen bauen oder Katzen jagen kann. Aber die Scooter und ihre helmtragenden Besitzer rasen vorbei und lassen Schanghai weit hinter sich, und die anderen Beteiligten der Kollision verbleiben weiterhin als Ausstellungsobjekte in ihren Museen.  

Wie bereits erwähnt, spaziere ich dort nachts nie allein. Einmal, als mir mitten in der Nacht eine heftige Gefühlsflut widerfahren ist, war ich entschlossen, von ihr wegzurennen. Körperlich wegzurennen. Den Augenzeugen dieses Ausbruchs habe ich erklärt, dass ich jetzt joggen gehe, und als ich mit impulsiven Bewegungen fast die Tür erreicht habe, schrien sie beinahe lautstark: „Wo wills du denn joggen, was faselst du denn für einen Quatsch“, und ich entgegnete: „Ich laufe die Giedraičių-Straße entlang bis zu der Weißen Brücke und zurück“. Die Giedraičių-Straße schallte in der Luft, und mir wurde sogar selber klar, dass in dieser Situation das nicht die vernünftigste Lösung war. Im Dunkeln allein durch Schanghai zu laufen, ist in keiner Situation eine gute Lösung, selbst wenn ich tagsüber darüber fliege, wie auf Flügeln.  

Meine Nachforschungen, die in der Eingabe von Schanghai Vilnius bei Google endeten, haben gezeigt, dass irgendjemand stets darauf aus ist, Šnipiškės „auszubessern“, die Häuser zu renovieren, die Leute umzusiedeln, daraus „ein neues Stadtzentrum“ zu gestalten. Irgendwo habe ich von Plänen gehört, hier eine richtige Restaurants-Straße zu errichten, Luxusappartements hinzuklotzen oder noch etwas anderes derartiges anzufangen. Auch wenn es mich davor schaudert, haben jene Geschäftsleute immer ein Hauptargument, gegen das man nur schwer ankommen kann, und zwar Armut. Armut, die überall ins Auge springt, die durch einstürzende Balkone, zugemüllte Innenhöfe, betrunkene verletzte Menschen auf der Straße und durch barfüßige Kinder zum Vorschein kommt. Die Art von Armut, zu der man in den ländlichen Gegenden gewohnt ist, aber dazu neigt, sie zu rechtfertigen, sie einfach sein zu lassen, denn nicht alle können ja reich sein. Aber hier, im Zentrum von Vilnius, in unmittelbarer Nähe zu Europa, tut uns diese Armut weh. Langsam, aber stetig sickert das Blut aus Schanghai und wir bleiben alle zwei Schritte stehen, um daran zu kratzen, fest entschlossen, diesmal die Dinge zu ändern, aber dann geben wir auf und bleiben wieder stehen, genau nach zwei Schritten.  

Und nach irgendeiner Anzahl dieser paar Schritte wird uns, denke ich, klar, dass Schanghai sich nicht so einfach abfackeln lässt. Es kämpft und ist nicht umsonst so, wie es ist, bereits seit über dreißig Jahren des unabhängigen Litauen. Auch wenn es gelingen würde, alle baufälligen Häuser abzufackeln und jede Gasse zu asphaltieren, würde es irgendwo auf eine andere Weise auftauchen, in einer anderen Form, vielleicht auch mit einem andren Inhalt, aber es würde um dasselbe gehen und immer mehr Unbehagen verursachen. Dann könnten wir es wieder mal in Brand setzen und erneut in Brand setzen, bis wir das ganze Vilnius niederbrennen, bis wir uns selbst völlig niederbrennen, bis es nichts mehr zu verbrennen gibt. Es würde dann als Tulpe, Flieder, Kirsch- oder Apfelbaum aufsprießen, die dann ungepflegt wieder erkranken und zur Ansteckungsbedrohung für andere Pflanzen im Garten werden. Dann würden wir es ausreißen und, wie es Gärtner tun, mit dem Unkraut in der Schubkarre in den Wald bringen, wo es im Winter Rehe unter dem Schnee ausgraben, weil sie unter dem Mangel an Grünzeug leiden. Es würde dann als Regen zurückkehren, der im Ozean mit Mikroplastik verseucht wurde, und am Ende würden wir es doch verspeisen, als Atlantiklachs. Und schließlich würde es als Traum zurückkommen, in welchem eine alte Hexe, die nebenan wohnt, uns einen halluzinogenen Apfel bringt, und wir all den Schmerz und all die Freude der Welt in einer Apfelscheibe sehen können. In der Scheibe vom Apfel, der mich so sehr lockt, ihn zu pflücken, als ich im Herbst der Route folge, die zu meinem Zuhause geworden ist. 

Wenn ich groß bin, will ich mir ein Haus in Schanghai leisten können. Im Garten will ich Tulpen, Flieder, Kirsch- und Apfelbäume anpflanzen, will einen Kater halten, den Kindern Schuhe anziehen, ihnen Helme aufsetzen, wenn sie Rad fahren, ich würde ihnen erlauben, nicht nur meinen Kater, sondern auch die der Nachbarn zu jagen. Ich würde immer ein Pflaster zur Hand haben und mich nicht fürchten, es zu verschenken, und samstags würde ich Freunde zum Glas Wein unter blühende Flieder einladen. Bei Einbruch der Dunkelheit würden wir alle nach einer fünfblättrigen Blüte suchen und sie dann kauen und glücklich die Stirn runzeln und uns kleine Wünsche ausdenken, Wünsche, die sehr bald in Erfüllung gehen, bis es endgültig dunkel wird und die letzten Busse alle nach Hause bringen.